1C_52/2024 03.12.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
1C_52/2024
Urteil vom 3. Dezember 2024
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
Bundesrichter Müller, Merz,
Gerichtsschreiberin Hänni.
Verfahrensbeteiligte
A.B.________,
vertreten durch C.B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Schroff,
Beschwerdeführerin,
gegen
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau,
Generalsekretariat, Regierungsgebäude, 8510 Frauenfeld.
Gegenstand
Opferhilfe; Längerfristige Hilfe in Form von juristischer Hilfe,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 15. November 2023 (VG.2023.78/E).
Sachverhalt:
A.
Mit Urteil vom 9. Dezember 2019 sprach das Bezirksgericht Weinfelden D.________ unter anderem der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern schuldig, unter anderem zum Nachteil von A.B.________. D.________ wurde überdies verpflichtet, A.B.________ eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 12'294.50 inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer für das Strafverfahren auszurichten.
B.
Nach Eintritt der Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils wurde das zuvor sistierte Verfahren betreffend die opferhilferechtlichen Ansprüche wieder aufgenommen. A.B.________ beantragte für die Rechtsvertretung im Strafverfahren unter anderem eine Entschädigung in der Höhe von Fr. 12'294.50 als langfristige Opferhilfe. Mit Entscheid vom 22. September 2021 wies das Bezirksgericht Weinfelden diesen Antrag ab. Für die Aufwendungen im Opferhilfeverfahren wurde A.B.________s Rechtsvertreter mit Fr. 5'493.30 entschädigt.
Dagegen wehrte sich A.B.________ vor dem Obergericht des Kantons Thurgau, das die Berufung abwies. Gegen diesen Entscheid erhob A.B.________ Beschwerde beim Bundesgericht (Verfahren 1C_344/2022).
C.
Parallel dazu reichte A.B.________ am 11. Oktober 2021 beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau einen Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten für das Strafverfahren in der Höhe von Fr. 12'294.50 ein. Mit Entscheid vom 25. Mai 2022 wies das Departement für Justiz und Sicherheit den Antrag ab. Die dagegen von A.B.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau erhobene Beschwerde wies dieses ab. Auch gegen diesen Entscheid erhob A.B.________ Beschwerde beim Bundesgericht (Verfahren 1C_656/2022).
D.
Mit Urteil vom 2. Juni 2023 vereinigte das Bundesgericht die beiden Verfahren 1C_344/2022 und 1C_656/2022 und hiess die Beschwerden gut. Zum einen hob es das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. Januar 2022 und den Entscheid des Bezirksgerichts Weinfelden vom 22. September 2021, soweit dieser die Übernahme der Anwaltskosten betrifft, auf. Zum anderen hob es das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. November 2022 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an dieses zurück.
E.
Am 15. November 2023 fällte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau einen neuen Entscheid. Es hiess die Beschwerde von A.B.________ teilweise gut, soweit es darauf eingetreten ist, und verpflichtete den Kanton, A.B.________ den Betrag von Fr. 8'365.50 zuzüglich 7,7 % Mehrwertsteuer als längerfristige Hilfe in Form von juristischer Hilfe zu bezahlen. Des Weiteren verpflichtete es den Kanton, A.B.________ für das Beschwerdeverfahren ausseramtlich reduziert mit Fr. 1'792.50 zuzüglich 7,7 % Mehrwertsteuer zu entschädigen.
F.
Dagegen erhebt A.B.________ am 24. Januar 2024 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung der Ziff. 1 des angefochtenen Urteils und die Ausrichtung einer Entschädigung aus Opferhilfe für die Opfervertretung im Strafverfahren Staat Thurgau gegen D.________ in der Höhe von Fr. 12'294.50 (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer). Weiter sei der Staat Thurgau zu verpflichten, 5 % Verzugszins auf Fr. 12'294.50 seit 15. Januar 2021 zu bezahlen. Schliesslich sei Ziff. 3 des angefochtenen Urteils aufzuheben und dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin sei für das gesamte OHG-Verfahren ein Honorar von total Fr. 5'857.75 (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) zuzusprechen.
Das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der Beschwerde und verweist auf den angefochtenen Entscheid.
Erwägungen:
1.
1.1. Der angefochtene Entscheid betrifft eine finanzielle Leistung nach dem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) und somit eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit (Art. 82 lit. a BGG; vgl. Urteil 1C_344/2022 vom 2. Juni 2023 E. 2, nicht publ. in BGE 149 II 246). Ein Ausschlussgrund nach Art. 83 BGG besteht nicht. Die Beschwerdeführerin hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und hat ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der angefochtenen Entscheide, weshalb sie zur Beschwerde berechtigt ist (Art. 89 Abs. 1 BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist vorbehältlich der nachfolgenden Ausführungen einzutreten.
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG); dieses wendet das Bundesgericht grundsätzlich von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (vgl. Art. 42 Abs. 1 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis). Für Rügen betreffend die Verletzung von Grundrechten - einschliesslich die willkürliche Anwendung von kantonalem Recht - gelten qualifizierte Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 II 283 E. 1.2.2 mit Hinweis).
Die Beschwerdeführerin rügt, die Weigerung der Vorinstanz, ihr einen Verzugszins zuzusprechen, sei widerrechtlich, begründet dies aber nicht weiter. Sie begründet auch in keiner Weise, inwiefern die Ausführungen der Vorinstanz bezüglich der Angemessenheit der einzelnen anwaltlichen Aufwendungen im Strafverfahren das Willkürverbot verletzen. Auf diese beiden Rügen kann mangels rechtsgenüglicher Begründung nicht eingetreten werden.
1.3. Die Vorinstanz ist in ihrem Urteil zum Schluss gekommen, die Beschwerdeführerin erfülle die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 6 und 16 OHG, da die anrechenbaren Erwerbseinkünfte ihrer Eltern deutlich unter dem Betrag nach Art. 16 lit. a OHG gelegen hätten und auch kein Vermögensverzehr angerechnet werden könne. Die Beschwerdeführerin führt dagegen aus, das anrechenbare Einkommen liege noch tiefer als der von der Vorinstanz berechnete Betrag. Diese Frage muss jedoch nicht weiter behandelt werden, da die Voraussetzungen für die Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter so oder so erfüllt sind.
1.4. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist somit zum einen die Frage, ob die Vorinstanz bei der Festlegung der längerfristigen Hilfe nach OHG vom Betrag abweichen durfte, den das Bezirksgericht Weinfelden der Beschwerdeführerin als Parteientschädigung zugesprochen hat (E. 2). Zum anderen ist die Höhe der Parteientschädigung für das opferhilferechtliche Beschwerdeverfahren strittig (E. 3).
2.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz dürfe bei der Festlegung der längerfristigen Hilfe gar nicht vom Betrag abweichen, welcher das Bezirksgericht Weinfelden im Strafurteil vom 9. Dezember 2019 als Parteientschädigung festgelegt habe. Dies sei willkürlich und verletze Art. 8 f., Art. 29 Abs. 2 und Art. 49 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 2 lit. g OHG i.V.m. Art. 37 und Art. 38 OHG und auch Art. 4, Art. 6, Art. 14, Art. 16 und Art. 19 OHG und die Art. 3 und 5 der Verordnung über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHV; SR 312.51).
2.1. Die Vorinstanz hat die Angemessenheit der im Strafverfahren erbrachten anwaltlichen Leistungen geprüft und ist dabei zum Schluss gekommen, der in der Honorarnote vom 6. Dezember 2019 geltend gemachte Aufwand sei um 15,25 auf 40,25 Stunden zu kürzen. Die auszurichtende längerfristige Hilfe nach OHG entspreche somit nicht der zugesprochenen Parteientschädigung, sondern betrage Fr. 8'365.50 inkl. Spesen und zuzüglich 7.7% Mehrwertsteuer
2.2. Wenn die juristische Hilfe im Sinne von Art. 14 Abs. 1 OHG durch eine Drittperson erbracht wird, können die im Strafverfahren angefallenen Anwaltskosten entweder als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe geltend gemacht werden (Art. 13 OHG und Art. 5 OHV; BGE 149 II 246 E. 5). Dabei ist es nicht nötig, dass das Beitragsgesuch gestellt wird, bevor die Hilfe durch die externe Fachperson beansprucht wird; auch nachträglich gestellte Gesuche um Kostenübernahme sind zu bewilligen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Unerheblich ist dabei, ob das Opfer Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege gehabt hätte oder nicht. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sollte sich ein Opfer jedoch grundsätzlich so früh wie möglich an die OHG-Beratungsstelle wenden, damit die Frage der Übernahme der Anwaltskosten soweit möglich im Voraus geregelt werden kann. Andernfalls besteht das Risiko, dass die Opferhilfe die angefallenen Anwaltskosten a posteriori nicht umfassend übernimmt (BGE 149 II 246 E. 12.6).
Ein Opfer, das ein OHG-Beitragsgesuch nachträglich stellt, darf aber nicht besser gestellt sein als ein Opfer, welchem im Strafverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zugesprochen wurde (BGE 131 II 121 E. 2.5.2). Die Anwaltskosten, die im Rahmen der längerfristigen Hilfe übernommen werden können, dürfen somit den Betrag nicht übersteigen, der dem Opfer im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege zugesprochen worden wäre. Für die Berechnung der längerfristigen Hilfe in Form von juristischer Hilfe kommt somit der Entschädigungstarif der unentgeltlichen Rechtspflege des betroffenen Kantons zum Tragen (BGE 133 II 361 E. 6.2; 131 II 121 E. 2.5.2).
Unnötige oder überflüssige Aufwendungen können dabei nicht entschädigt werden, sondern nur jene Aufwendungen, die für die Opfervertretung unbedingt notwendig sind. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Kosten zu übernehmen, die nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den Ansprüchen stehen, die das Opfer geltend machen kann (BGE 133 II 361 E. 6.3; Urteil 1C_612/2015 vom 17. Mai 2016 E. 2.3; 1A.160/2001 vom 7. Februar 2002 E. 3.2).
2.3. Vorliegend verpflichtete das Bezirksgericht Weinfelden mit Strafurteil vom 9. Dezember 2019 den Täter, der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 12'295.60 inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer auszurichten. Diese Parteientschädigung entspricht zwar der eingereichten Honorarnote vom 6. Dezember 2019, jedoch nicht unbedingt jenem Betrag, der dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege vergütet worden wäre.
Wenn nun die Vorinstanz die einzelnen Posten der Honorarnote vom 6. Dezember 2019 auf ihre Angemessenheit überprüft und vom Betrag der Honorarnote des Rechtsvertreters abweicht, ist dies nicht willkürlich, sondern entspricht der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichts. Die Vorinstanz ist durch das OHG verpflichtet, sicherzustellen, dass die Beschwerdeführerin, die ein nachträgliches OHG-Gesuch um Kostenübernahme gestellt hat, nicht besser gestellt ist im Vergleich zu jenen Opfern, denen bereits im Strafverfahren die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wurde. Das Vorgehen der Vorinstanz verletzt auch keine der übrigen von der Beschwerdeführerin zitierten gesetzlichen Grundlagen, insbesondere nicht Art. 2 lit. g OHG i.V.m. Art. 37 und Art. 38 OHG, zumal diese Artikel mit Wirkung seit 1. Januar 2011 aufgehoben wurden (AS 2010 1881; BBl 2006 1085).
3.
Die Beschwerdeführerin rügt noch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) sowie des Willkürverbots (Art. 9 BV) im Zusammenhang mit der Parteientschädigung für das opferhilferechtliche Beschwerdeverfahren. Sie führt aus, die Vorinstanz hätte die verschiedenen Entschädigungen nicht verrechnen dürfen. Überdies sei es will-kürlich, sich auf das "violette Mäppli" zu beziehen, ohne zu erklären, was es mit diesem "Mäppli" auf sich habe.
3.1. Die Vorinstanz führte aus, die Beschwerdeführerin habe Anspruch auf Ersatz ihrer Parteikosten für das Beschwerdeverfahren. Ein erheblicher Teil der Aufwendungen für die Geltendmachung einer Entschädigung nach OHG sei jedoch bereits durch das Bezirksgericht Weinfelden vergütet worden. Mit dessen Urteil vom 22. September 2021 sei der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für den Zeitraum vom 3. März 2017 bis 7. September 2021 bereits mit Fr. 5'493.30 entschädigt worden. Es sei einzig der Aufwand des Beschwerdeverfahrens, also die Bemühungen ab Entgegennahme des Entscheids des Departements für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau vom 25. Mai 2022 zu entschädigen. Für das Beschwerdeverfahren sei ein Aufwand von 8 Stunden (2,5 Stunden für Korrespondenz und Telefonate und 5,5 Stunden für die Beschwerdeerhebung und die Korrespondenz mit dem Gericht) à Fr. 250.-- angemessen. Dieser Betrag sei aufgrund des nur teilweisen Obsiegens um einen Viertel auf sechs Stunden zu reduzieren, was einen Betrag von Fr. 1'500.-- ergebe.
3.2. Diese Ausführungen der Vorinstanz sind weder willkürlich noch verletzen sie das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin. Die Vorinstanz hat zu Recht festgehalten, dass jener Teil der Aufwendungen, der bereits durch das Bezirksgericht Weinfelden mit Urteil vom 22. September 2021 vergütet worden sei, nicht noch einmal entschädigt werden könne. Die teilweise Kürzung der einzelnen Posten kritisiert die Beschwerdeführerin nicht, weshalb darauf nicht weiter eingegangen werden muss. Im Übrigen verweist die Vorinstanz zwar auf das "violette Mäppli", präzisiert aber genau, wo dieses in den Akten zu finden ist. Der Rechtsvertreter hätte somit ohne Weiteres Zugang zu diesem Aktenstück ersuchen können - das im Übrigen nur seine eigenen Honorarnoten vom 13. Juli 2021 und vom 7. September 2021 enthält.
4.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 30 Abs. 1 OHG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin dem Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 3. Dezember 2024
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kneubühler
Die Gerichtsschreiberin: Hänni