8C_442/2024 04.12.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_442/2024
Urteil vom 4. Dezember 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichter Maillard,
Bundesrichterin Heine,
Bundesrichterin Viscione,
Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiberin Durizzo.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Gabriel Hüni,
Beschwerdeführerin,
gegen
AXA Versicherungen AG,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Kathrin Hässig,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung (Berufskrankheit, Kausalzusammenhang),
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 10. April 2024 (VBE.2023.456).
Sachverhalt:
A.
A.________, geboren 2000, war als Fachangestellte Gesundheit EFZ im Spital B.________, Abteilung Neurologie, beschäftigt und dadurch bei der AXA Versicherungen AG (nachfolgend: AXA) gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Im Oktober 2022 meldete sie der AXA, dass sie sich im Januar 2022 mit dem Covid-19-Virus angesteckt habe (positiver Test am 31. Januar 2022). Gemäss ihren Angaben auf dem Fragebogen vom 7. Dezember 2022 war sie in der Folge bis Ende 2022 arbeitsunfähig. Die AXA lehnte eine Leistungspflicht für die geltend gemachte Long-Covid-Erkrankung mit Verfügung vom 4. April 2023 und Einspracheentscheid vom 29. September 2023 ab mit der Begründung, dass eine Ansteckung bei der Arbeit nicht ausgewiesen sei.
B.
Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 10. April 2024 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils seien ihr die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen, eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz oder an die AXA zurückzuweisen.
Die AXA lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Beide Parteien äussern sich mit je einer weiteren Eingabe. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin für die geltend gemachte Long-Covid-Erkrankung als Berufskrankheit verneinte.
3.
3.1. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Leistungspflicht des Unfallversicherers bei Berufskrankheiten (Art. 9 UVG; BGE 114 V 109 E. 3; vgl. ferner BGE 133 V 421 E. 4.1; 117 V 354 E. 2a; RKUV 1988 Nr. U 61 S. 447 E. 1; Urteil 8C_420/2007 vom 29. Januar 2008 E. 4.2) und insbesondere bei arbeitsbedingten Infektionskrankheiten mit Ansteckung in einem Spital oder Laboratorium oder in einer Versuchsanstalt gemäss der Doppelliste von Ziff. 2 lit. b des UVV-Anhangs 1 zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen. Gleiches gilt hinsichtlich der Empfehlung Nr. 1/2003 der Ad-hoc-Kommission Schaden UVG vom 22. Mai 2003 in der revidierten Fassung vom 23. Dezember 2020, wonach es für die Haftung bei einer Covid-19-Erkrankung einer berufsbedingten Exposition, das heisst einer Arbeit mit infizierten Patienten oder mit einer stark infizierten/infizierenden oder kontaminierten Umgebung bedarf. Es ist daran zu erinnern, dass die Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission Schaden UVG für das Bundesgericht nicht verbindlich sind (BGE 114 V 315 E. 5c; 146 V 74 E. 5.3.11; Urteil 8C_207/2010 vom 31. Mai 2010 E. 3.3.3).
3.2. Gemäss dem jüngst ergangenen Urteil 8C_582/2022 vom 12. Juli 2024 fällt eine Leistungspflicht des Unfallversicherers ausser Betracht, wenn die versicherte Person (in jenem Fall eine Psychologin) keine akut am Covid-19-Virus erkrankten Patienten betreut. Das Bundesgericht erwog, dass die Zusammenhangsfrage - entsprechend dem Wortlaut der Doppelliste von Ziff. 2 lit. b des UVV-Anhangs 1 - vom Verordnungsgeber aufgrund arbeitsmedizinischer Erkenntnisse vorentschieden ist. Es besteht in beweisrechtlicher Hinsicht praxisgemäss (unter Vorbehalt des schlüssigen Gegenbeweises) die natürliche Vermutung, dass eine Berufskrankheit vorliege, wenn eine der dort aufgelisteten Krankheiten aufgetreten ist und der Versicherte die entsprechende im UVV-Anhang umschriebene Tätigkeit verrichtet. Die Vermutung, dass eine Infektionskrankheit durch die Arbeit im Spital verursacht worden sei, rechtfertigt sich indessen nur dann, wenn es sich dabei um eine Tätigkeit mit dem spezifischen Risiko des vom Verordnungsgeber als gesundheitsgefährdend definierten Arbeitsplatzes handelt. Nicht jegliche Tätigkeit in einem Spital oder Laboratorium oder in einer Versuchsanstalt kann somit als gesundheitsgefährdend gelten (Urteil 8C_582/2022 vom 12. Juli 2024 E. 4, insb. E. 4.6 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen).
4.
4.1. Gemäss Vorinstanz bestanden bei der Arbeit im Spital auf der Abteilung Neurologie gestützt auf die Angaben der Arbeitgeberin (E-Mail vom 14. März 2023) Kontakte mit infizierten Patienten. Eine Ansteckung komme indessen lediglich in Frage durch einen Patienten, den die Beschwerdeführerin am 27. Januar 2022 gepflegt habe. Dieser sei aber bereits am 7. Januar 2022 positiv getestet worden und habe 10 Tage danach nicht mehr als infektiös gelten können. Zudem seien die Symptome bei der Beschwerdeführerin bereits kurz nach dem Kontakt mit diesem Patienten aufgetreten, die durchschnittliche Inkubationszeit dauere indessen 3,42 Tage. Schliesslich habe die damals vorherrschende Omikron-Variante zu einer Ansteckungszahl von 8 bis 11 % der Gesamtbevölkerung geführt. Es sei aus all diesen Gründen nicht ausgewiesen, dass sich die Beschwerdeführerin bei der Arbeit angesteckt habe.
4.2. Die Beschwerdeführerin beruft sich dagegen darauf, dass sie - wenn auch nicht auf der Intensivstation - durch ihre Pflegetätigkeit mit infizierten Patienten und dabei mit Haut, Ausscheidungen und kontaminierten Materialien und Oberflächen, aber auch mit dem übrigen Pflegepersonal unmittelbar in Kontakt gekommen und damit dem berufstypischen Risiko in einem Spital ausgesetzt und gefährdet gewesen sei. Mit dem Hinweis insbesondere auf die vermeintlich fixe Inkubationszeit, bei der es sich indessen lediglich um einen statistischen Durchschnittswert handle, lasse sich die Leistungspflicht des Unfallversicherers nicht ausschliessen. Gleiches gelte für die von der Vorinstanz angenommene Infektiosität und schliesslich auch die Annahme, dass lediglich ein einziger, am 27. Januar 2022 betreuter Patient für die Ansteckung in Frage gekommen sei. Die Beschwerdeführerin schildert unter anderem einen Kontakt mit einer positiv getesteten Patientin am 21. Januar 2022. Sie habe damals einer Kollegin aushelfen müssen, weil die Patientin aggressiv geworden sei und gehustet und gespuckt habe. Die Beschwerdeführerin habe sie festhalten müssen, während ihre Kollegin ihr ein Benzodiazepin als Beruhigungsmittel (Midazolam) verabreicht habe. Entgegen der Beschwerdegegnerin müsse angesichts des Kontakts mit Covid-19-Patienten im Spital die Vermutung greifen, dass sie, die Beschwerdeführerin, sich am Arbeitsplatz infiziert habe. Weitere beweismässige Voraussetzungen wie insbesondere ein Ansteckungsnachweis im Einzelfall gestützt auf eine mutmassliche Inkubationszeit bestünden nicht für die Leistungspflicht des Unfallversicherers.
4.3. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass die Beschwerdeführerin nicht auf einer Covid-19-Station beschäftigt und damit nicht bei unzählig vielen Gelegenheiten am Arbeitsplatz exponiert gewesen sei. Sie erneuert ihre Argumentation, dass lediglich ein Patientenkontakt als Ansteckungsquelle in Frage komme. Aus den auch von der Vorinstanz als ausschlaggebend erachteten Gründen (infektiöse Phase, Inkubationszeit) könne die Erkrankung nicht auf eine Ansteckung am Arbeitsplatz zurückgeführt werden und die Beschwerdeführerin daher nicht vom Privileg der natürlichen Vermutung einer beruflichen Ansteckung profitieren.
5.
Es steht gestützt auf die vorinstanzlichen Erwägungen fest und ist unbestritten geblieben, dass die Beschwerdeführerin als Fachangestellte Gesundheit an ihrem Arbeitsplatz im Spital mit der Pflege von Patienten mit einer Covid-19-Erkrankung betraut war. Zwar handelte es sich nicht um die Intensivstation, aber gemäss Angaben der Arbeitgeberin waren die Patienten auf eine Pflege angewiesen, die engen körperlichen Kontakt erforderten. Damit ist ohne Weiteres von einer Tätigkeit mit dem spezifischen Risiko eines gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatzes im Spital im Sinne der Doppelliste von Ziff. 2 lit. b des UVV-Anhangs 1 auszugehen und hat dementsprechend praxisgemäss die natürliche Vermutung zu greifen, dass eine Berufskrankheit vorliege, nachdem die Beschwerdeführerin an einer Covid-19-Infektion erkrankt ist.
Die Vorinstanz hält dafür, dass eine Ansteckung am Arbeitsplatz ohnehin nicht überwiegend wahrscheinlich sei. Zum einen geht sie aufgrund der Angaben der Arbeitgeberin von einem einzig möglichen Ansteckungszeitpunkt am 27. Januar 2021 aus. Zum anderen stützt sie sich auf das "Wissenschaftliche Update" der Swiss National Covid-19 Science Task Force vom 25. Januar 2021 (abrufbar unter: https://sciencetaskforce.ch/wissenschaftliches-update-25-januar-2022/; besucht am 25. November 2024).
Daraus lässt sich indessen kein schlüssiger Gegenbeweis ableiten, der die Vermutung der berufsbedingten Erkrankung umzustossen vermöchte. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin liegt die Beweislast dafür beim Unfallversicherer. Dies gilt zum einen hinsichtlich der vom kantonalen Gericht gestützt auf die Angaben der Stationsleiterin in der fraglichen E-Mail vom 14. März 2023 angestellten Hypothesen, bei welchem Kontakt es letztlich zur Ansteckung gekommen sei. Es kann insbesondere nicht ausschlaggebend sein, wie viele infizierte Patienten die Beschwerdeführerin im Spital zu betreuen hatte, zumal selbst gemäss Vorinstanz feststeht, dass die Pflege solcher Patienten zu den regelmässigen Aufgaben der Beschwerdeführerin gehörte. Sind die Voraussetzungen für die Geltung der natürlichen Vermutung wie hier gegeben, bedarf es keiner weiteren Abklärungen, bei welcher Gelegenheit die Infektion stattgefunden habe. Zum andern lässt sich ein schlüssiger Gegenbeweis auch mit den übrigen Annahmen von Verwaltung und Vorinstanz nicht begründen. Dass eine Ansteckung mit der damals dominanten, leichter übertragbaren und auch in der Gesamtbevölkerung einigermassen verbreiteten Virusvariante Omikron erfolgte, ist nicht erstellt und auch nicht ausschlaggebend. Zudem handelt es sich bei der im angefochtenen Urteil unterstellten Dauer der infektiösen Phase von Patienten und der Inkubationszeit gestützt auf die Ausführungen der Swiss National Covid-19 Science Task Force vom 25. Januar 2021 um blosse Schätzungen.
6.
Zusammengefasst ist die Covid-19-Infektion der Beschwerdeführerin bei Anwendbarkeit der natürlichen Vermutung gestützt auf Ziff. 2 lit. b von UVV-Anhang 1 und mangels schlüssigen Gegenbeweises grundsätzlich als Berufskrankheit anzuerkennen. Zur Prüfung der weiteren Leistungsvoraussetzungen im Einzelnen, insbesondere ob und ab wann durch die Berufskrankheit bedingte Arbeitsunfähigkeiten als ausgewiesen gelten können, ist die Sache an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.
7.
Die Rückweisung der Sache zum erneuten Entscheid kommt praxisgemäss einem Obsiegen gleich (BGE 146 V 28 E. 7; 141 V 281 E. 11.1). Dementsprechend hat die unterliegende Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Des Weiteren hat sie der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 10. April 2024 und der Einspracheentscheid der AXA Versicherungen AG vom 29. September 2023 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die AXA Versicherungen AG zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. Dezember 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo