7B_1214/2024 14.01.2025
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_1214/2024
Urteil vom 14. Januar 2025
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch,
Bundesrichter Kölz,
Gerichtsschreiber Caprara.
Verfahrensbeteiligte
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Maurerstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Burkhard,
Beschwerdegegnerin,
1. Ursina Stocker, Staatsanwältin,
Staatsanwaltschaft Bischofszell,
Poststrasse 5b, 9220 Bischofszell,
2. B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Hotz,
Gegenstand
Ausstand,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 5./16. September 2024 (SW.2024.75).
Sachverhalt:
A.
A.a. Am 5. Oktober 2021 meldete sich A.________ bei der kantonalen Notrufzentrale in U.________ und teilte mit, sie sei von ihrem Freund B.________ massiv bedroht worden. Gleichentags eröffnete die Staatsanwaltschaft Bischofszell (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) eine Strafuntersuchung (Verfahren xxx) gegen B.________ wegen mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung, einfacher Körperverletzung, Drohung sowie Beschimpfung. Am 22. Oktober 2021 reichte A.________ eine weitere Anzeige gegen B.________ ein. Anlässlich der gleichentags durchgeführten Einvernahme beschrieb sie ungewollte sexuelle Handlungen ab September 2017.
A.b. Mit Teil-Nichtanhandnahmeverfügung vom 13. April 2022 nahm die Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung betreffend mehrfache sexuelle Nötigung gemäss den in der Einvernahme vom 22. Oktober 2021 beschriebenen Handlungen nicht an Hand.
Mit Entscheid vom 6. Oktober 2022 hiess das Obergericht des Kantons Thurgau die von A.________ am 28. April 2022 gegen die Teil-Nichtanhandnahmeverfügung vom 13. April 2022 erhobene Beschwerde gut, hob diese auf und wies die Sache zur Eröffnung und Durchführung einer Strafuntersuchung wegen der angezeigten Sexualdelikte an die Staatsanwaltschaft zurück.
B.
B.a. Nach weiteren polizeilichen und delegierten Einvernahmen der beiden Parteien sowie einer delegierten Zeugeneinvernahme erliess die Staatsanwaltschaft am 2. November 2023 eine Teil-Einstellungsverfügung betreffend mehrfache sexuelle Nötigung.
Gleichzeitig wies die Staatsanwaltschaft mit Beweisergänzungsentscheid vom 2. November 2023 die von A.________ gestellten Beweisanträge (betreffend Durchführung verschiedener Einvernahmen und Beizug sämtlicher Akten des Verfahrens gegen B.________ und C.________) ab.
B.b. Mit Entscheid vom 3. Mai 2024 hiess das Obergericht des Kantons Thurgau die von A.________ gegen die Teil-Einstellungsverfügung vom 2. November 2023 erhobene Beschwerde gut, hob diese auf und wies die Sache an die Staatsanwaltschaft zur Weiterführung der Strafuntersuchung zurück. Auf die von A.________ gegen den Beweisergänzungsentscheid vom 2. November 2023 erhobene Beschwerde trat das Obergericht nicht ein.
C.
C.a. Am 30. Mai 2024 wandte sich A.________ an die verfahrensleitende Staatsanwältin Ursina Stocker und ersuchte um Wechsel der Verfahrensleitung. Dabei hielt sie abschliessend fest, dass ihr Schreiben nicht als förmliches Ausstandsgesuch zu verstehen sei. Ein solches behalte sie sich jedoch ab Rechtskraft des Entscheids vom 3. Mai 2024 (vgl. Sachverhalt lit. B.b) ausdrücklich vor. Die Staatsanwältin Ursina Stocker antwortete am 26. Juni 2024, aus Sicht der Staatsanwaltschaft bestehe kein Anlass für einen Wechsel der Verfahrensleitung.
C.b. Am 28. Juni 2024 stellte A.________ beim Obergericht des Kantons Thurgau ein Ausstandsgesuch gegen die verfahrensleitende Staatsanwältin Ursina Stocker und beantragte, diese sei im Strafverfahren gegen B.________ in den Ausstand zu versetzen.
C.c. Mit Entscheid vom 5./16. September 2024 hiess das Obergericht des Kantons Thurgau das Ausstandsgesuch gut und ordnete den Ausstand der Staatsanwältin Ursina Stocker in der Strafuntersuchung xxx mit Wirkung ab dem 2. November 2023 an.
D.
Dagegen gelangt die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragt die Aufhebung des Entscheids des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 5./16. September 2024 und die Abweisung des Ausstandsgesuchs vom 28. Juni 2024, unter Kostenfolge zu Lasten der Beschwerdegegnerin.
Die kantonalen Akten wurden beigezogen. Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.
Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob eine Beschwerde zulässig ist (BGE 150 IV 103 E. 1).
1.1. Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid in einer Strafsache (Art. 78 Abs. 1 BGG). Dieser betrifft ein Ausstandsbegehren, weshalb die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gemäss Art. 92 Abs. 1 BGG grundsätzlich zulässig ist. Das Obergericht hat als letzte und einzige kantonale Instanz entschieden (Art. 80 BGG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO).
1.2.
1.2.1. Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Das rechtlich geschützte Interesse der Staatsanwaltschaft (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG) leitet sich aus dem staatlichen Strafanspruch ab, den sie zu vertreten hat. Mithin ist die Staatsanwaltschaft im Verfahren vor Bundesgericht (unter allen Rechtstiteln nach Art. 95-98 BGG; BGE 134 IV 36 E. 1.4.3 f.) beschwerdebefugt, wenn es um die Durchsetzung des Strafanspruchs als solchen oder um damit zusammenhängende materiell- und prozessrechtliche Belange geht. Das rechtlich geschützte Interesse der beschwerdeführenden Staatsanwaltschaft kann nicht pauschal bejaht, sondern muss im Einzelfall durch diese begründet werden, sofern es nicht offensichtlich gegeben ist (Art. 42 Abs. 1 BGG; BGE 148 IV 275 E. 1.3; Urteil 7B_636/2023 vom 14. Februar 2024 E. 1; je mit Hinweisen).
1.2.2. Ist in einem Kanton eine übergeordnete staatsanwaltschaftliche Behörde für die Strafverfolgung aller Straftaten im ganzen Kantonsgebiet zuständig, kann grundsätzlich nur diese Behörde (Oberstaatsanwaltschaft, Generalstaatsanwaltschaft usw.) oder ein Mitglied der obersten Geschäftsleitung einer kantonalen Staatsanwaltschaft mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gelangen (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG in Verbindung mit Art. 381 Abs. 2 StPO; vgl. BGE 142 IV 196 E. 1.5.2; Urteil 7B_171/2022 vom 15. April 2024 E. 1.5 mit Hinweisen).
Die Beschwerde wurde vorliegend von der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (vgl. § 28 Abs. 2 und § 30 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 17. Juni 2009 über die Zivil- und Strafrechtspflege [ZSRG/TG; RB 271.1]) und damit von der beschwerdebefugten Behörde eingereicht.
1.2.3. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist ein rechtlich geschütztes Interesse der Staatsanwaltschaft an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids etwa dann zu bejahen, wenn sich die Beschwerde gegen ein aus einer angeblich verletzten Ausstandspflicht abgeleitetes Beweisverwertungsverbot richtet und diese damit einen legitimationsbegründenden Aufgabenbereich der Staatsanwaltschaft tangiert (vgl. Urteil 6B_215/2022 vom 25. August 2022 E. 1.4.3). Ein solches Interesse ist auch dann zu bejahen, wenn in einem Entscheid eine Staatsanwältin oder ein Staatsanwalt in den Ausstand versetzt und gleichzeitig gegen sie respektive ihn eine Disziplinarmassnahme ausgesprochen wird (vgl. BGE 149 IV 213 E. 2; 107 Ia 266). Indessen hat nach der bundesgerichtlichen Praxis ein Richter oder eine Richterin keinen eigenen Anspruch, an einem bestimmten Verfahren mitzuwirken (BGE 149 IV 213 E. 2 mit Hinweisen). Dasselbe gilt für einen Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin.
Das rechtlich geschützte Interesse der Generalstaatsanwaltschaft an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids ist vorliegend nicht offensichtlich. Dieser Entscheid betrifft die verfahrensleitende Staatsanwältin einzig in ihrer amtlichen Eigenschaft (vgl. BGE 149 IV 213 E. 2). Eine Disziplinarmassnahme oder eine andere Anordnung, die sie in ihrer privaten Rechtssphäre treffen würde (vgl. BGE 149 IV 213 E. 2), wurde nicht erlassen. Konkrete Beweisverwertungsverbote stehen vorliegend ebenso wenig zur Diskussion. Das Bundesgericht hat bereits als fraglich bezeichnet, ob der Staatsanwaltschaft die Legitimation zur Anfechtung eines Entscheids, mit welchem eine Staatsanwältin oder ein Staatsanwalt in den Ausstand versetzt wird, nicht in genereller Weise abgesprochen werden muss, jedenfalls solange gleichzeitig - wie vorliegend - weder allfällige Disziplinarmassnahmen gegen die fehlbare Staatsanwältin respektive den fehlbaren Staatsanwalt noch konkrete Beweisverwertungsverbote zur Diskussion stehen. Diese Frage hat das Bundesgericht bisher offengelassen (vgl. Urteile 1B_462/2022 vom 27. Dezember 2022 E. 2.2; 1B_526/2020 vom 4. Februar 2021 E. 1; 1B_20/2014 und 1B_22/2014 vom 24. Januar 2014 E. 1.2). Eine Beantwortung dieser Frage drängt sich auch vorliegend aus nachfolgenden Gründen nicht auf.
1.2.4. Die Generalstaatsanwaltschaft führt zur Begründung ihrer Beschwerdelegitimation aus, diese ergebe sich "ohne Weiteres" aus der Tatsache, dass es sich vorliegend nur um einen Teil des gegen B.________ geführten Strafverfahrens handle, der eingestellt werden sollte. Vorliegend würde es zu einer unhaltbaren Verfahrenssituation führen, wenn durch den beantragten Ausstand der verfahrensleitenden Staatsanwältin das Verfahren entweder getrennt geführt oder das ganze Verfahren in Nachachtung von Art. 29 StPO durch eine andere Verfahrensleitung übernommen werden müsste. Dies stünde dem Beschleunigungsgebot diametral entgegen. Die Strafverfolgungsbehörden hätten zudem ein gewichtiges Interesse daran, dass in einem Verfahren, in welchem die Verfahrensleitung eine Nichtanhandnahme und/oder eine Einstellung verfügt habe, nicht durch ein Ausstandsbegehren ein Handwechsel erzwungen werden könne. Dies würde bei der Staatsanwaltschaft zu einem massiven Mehraufwand führen, zumal sich eine neue Verfahrensleitung in den Fall einarbeiten müsste und Verfahrensschritte wiederholt werden müssten. Gerade bei Vier-Augen-Delikten wie dem vorliegenden habe dies unter Umständen aufgrund des Zeitablaufs auch zu Beweisschwierigkeiten geführt.
1.2.5. Zwar macht die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht geltend, dass "Verfahrensabschnitte" wiederholt werden müssten. Insoweit zielt sie sinngemäss darauf ab, dass die Staatsanwaltschaft infolge der Gutheissung des Ausstandsgesuchs Beweise nochmals erheben müsste. Indessen konkretisiert die Beschwerdeführerin ihre Behauptung nicht näher, bzw. legt nicht dar (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), welche Beweisabnahmen im vorliegenden Fall zu wiederholen wären. Diese Behauptung erweist sich auch inhaltlich als unzutreffend, zumal seit dem Zeitpunkt, ab welchem der Ausstand der verfahrensleitenden Staatsanwältin angeordnet wurde (d.h. ab dem 2. November 2023; vgl. Sachverhalt lit. C.c), keine (weiteren) Beweise abgenommen wurden, was von der Beschwerdeführerin eingeräumt wird. Die Beschwerdeführerin behauptet zudem nicht, dass das dem vorliegenden Ausstandsverfahren zugrunde liegende Strafverfahren im Falle der Bejahung des Ausstands der verfahrensleitenden Staatsanwältin zu verjähren drohe (so im Urteil 1B_144/2021 vom 30. August 2021 E. 1.2). Bei dieser Sachlage ist weder rechtsgenüglich dargetan noch ersichtlich, dass der Ausstand der verfahrensleitenden Staatsanwältin vorliegend weitreichende Konsequenzen hätte (vgl. Urteile 1B_144/2021 vom 30. August 2021 E. 1.2; 1B_620/2020 vom 23. Februar 2021 E. 1.2) respektive die zeitgerechte Durchsetzung des Strafanspruchs gefährden würde (vgl. Urteil 7B_636/2023 vom 14. Februar 2024 E. 1). Dies umso weniger, als es sich beim vorliegenden Fall (anders als etwa im Urteil 1B_620/2020 vom 23. Februar 2021 E. 1.2) nicht um ein komplexes Strafverfahren handelt.
Es mag zwar zutreffen, dass sich der Anschein der Befangenheit der verfahrensleitenden Staatsanwältin gemäss der Vorinstanz aus der (obergerichtlich aufgehobenen) Teil-Einstellungsverfügung vom 2. November 2023 betreffend mehrfache sexuelle Nötigung ergebe und somit nur einen Teil des gegen B.________ geführten Strafverfahrens betreffe. Indessen trifft nicht zu, dass infolge der Gutheissung des Ausstandsgesuchs das Strafverfahren "getrennt" geführt werden müsste. Vielmehr wird das ganze Strafverfahren durch eine andere Verfahrensleitung übernommen werden müssen, weil vorliegend mehrere Straftaten einer einzelnen Person zur Diskussion stehen (vgl. Art. 29 Abs. 1 lit. a StPO; BGE 138 IV 214 E. 3.2; Urteil 6B_782/2021 vom 17. Februar 2022 E. 2.2 in fine). Dabei handelt es sich um die gewöhnliche Folge der Gutheissung eines Ausstandsgesuchs gegen die staatsanwaltliche Verfahrensleitung.
2.
Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin ist keine Parteientschädigung auszurichten, da sie im bundesgerichtlichen Verfahren nicht zur Vernehmlassung eingeladen wurde und ihr somit keine Umtriebe entstanden sind.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, Ursina Stocker, B.________ und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. Januar 2025
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Caprara