8C_445/2024 18.03.2025
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_445/2024
Urteil vom 18. März 2025
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Viscione, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Scherrer Reber,
Gerichtsschreiber Walther.
Verfahrensbeteiligte
Arbeitslosenkasse des Kantons St. Gallen, Rechtsdienst, Geltenwilenstrasse 16/18, 9001 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2024 (AVI 2024/8).
Sachverhalt:
A.
A.________, geboren 1959, beantragte am 25. April 2022 bei der Arbeitslosenkasse des Kantons St. Gallen (nachfolgend: Arbeitslosenkasse) Arbeitslosenentschädigung ab 1. Juli 2022. Am Donnerstag, 10. August 2023, um 23.45 Uhr, erlitt er einen Unfall, der bis Sonntag, 13. August 2023, zu einer Arbeitsunfähigkeit führte. Im Formular "Angaben der versicherten Person" für den Monat August 2023 kreuzte er bei der Frage nach einer Arbeitsunfähigkeit "Nein" an. Gestützt auf Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG stellte die Arbeitslosenkasse den Versicherten mit Verfügung vom 27. November 2023 wegen unwahrer Angaben im Formular ab 23. August 2023 für zwei Tage in der Anspruchsberechtigung ein. Mit Einspracheentscheid vom 9. Januar 2024 wies sie die Einsprache des Versicherten ab, soweit sie darauf eintrat. Mit Verfügung vom 12. Januar 2024 lehnte sie unter Hinweis auf Art. 42 Abs. 2 AVIV zudem den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung vom 10. bis 11. August 2023 wegen unterlassener Meldung der Arbeitsunfähigkeit ab. Bereits am 28. November 2023 hatte die Arbeitslosenkasse aufgrund der beiden Einstelltage und der Ablehnung des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung vom Versicherten insgesamt Fr. 652.40 zurückgefordert.
B.
Die gegen den Einspracheentscheid vom 9. Januar 2024 erhobene Beschwerde von A.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 18. Juli 2024 gut, soweit es darauf eintrat, und hob den Einspracheentscheid auf.
C.
Die Arbeitslosenkasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, unter Aufhebung des kantonalen Entscheids sei ihr Einspracheentscheid zu bestätigen.
A.________, die Vorinstanz und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) verzichten auf eine Stellungnahme.
Erwägungen:
1.
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 148 V 209 E. 2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
1.2. Während neue Tatsachen und Beweismittel, die aus der Zeit vor dem vorinstanzlichen Urteil stammen, unter gewissen Voraussetzungen vorgebracht werden dürfen (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG), gilt dies nicht für solche, die erst nach dem angefochtenen Urteil entstanden sind. Sie sind in jedem Fall unzulässig (BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen).
Mit ihrer Beschwerde reicht die Arbeitslosenkasse ein Schreiben an den Beschwerdegegner vom 15. August 2024 ein und führt dazu aus, die am 12. Januar 2024 verfügte Verneinung des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung für den 10. August 2023 sei zu Unrecht erfolgt, da sich der Unfall an diesem Tag erst um 23.45 Uhr ereignet habe. Diesen Fehler habe sie inzwischen mit dem genannten Schreiben korrigiert. Da dieses Schreiben jedoch nach dem angefochtenen Entscheid datiert, hat es - ebenso wie die darauf basierenden Erläuterungen in der Beschwerde - als unzulässiges echtes Novum unberücksichtigt zu bleiben, wobei es ohnehin nicht entscheidwesentlich wäre (vgl. E. 5.1 am Schluss).
2.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie die von der Arbeitslosenkasse mit Einspracheentscheid vom 9. Januar 2024 angeordnete zweitägige Einstellung in der Anspruchsberechtigung aufgehoben hat. Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist hingegen die Verfügung vom 12. Januar 2024, mit welcher die Arbeitslosenkasse gestützt auf Art. 42 Abs. 2 AVIV den Anspruch des Beschwerdegegners auf Arbeitslosenentschädigung vom 10. bis 11. August 2023 wegen unterlassener Meldung seiner Arbeitsunfähigkeit verneint hat.
3.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Leistungen in Form von Taggeldern bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit (Art. 28 Abs. 1 und 2 AVIG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Hervorzuheben ist, dass vorübergehend ganz oder teilweise arbeitsunfähige Versicherte, die ihren Taggeldanspruch geltend machen wollen, ihre Arbeitsunfähigkeit innert einer Woche nach deren Beginn dem RAV melden müssen (Art. 42 Abs. 1 AVIV). Meldet die versicherte Person ihre Arbeitsunfähigkeit ohne entschuldbaren Grund nach Ablauf dieser Frist und hat sie die Arbeitsunfähigkeit auch nicht auf dem Formular "Angaben der versicherten Person" angegeben, so hat sie für die Tage der Arbeitsunfähigkeit vor der Meldung keinen Taggeldanspruch (Art. 42 Abs. 2 AVIV). Nach Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG ist der Versicherte zudem in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er unwahre oder unvollständige Angaben gemacht oder in anderer Weise die Auskunfts- oder Meldepflicht verletzt hat.
4.
Unbestritten ist, dass der Beschwerdegegner auf dem Formular "Angaben der versicherten Person" für den Monat August 2023 bei der Frage nach einer Arbeitsunfähigkeit trotz der vom 10. August, 23.45 Uhr bis Sonntag, 13. August 2023 andauernden Arbeitsunfähigkeit "nein" angekreuzt und damit eine unwahre Angabe im Sinne von Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG gemacht hat. Hinsichtlich der sich daraus ergebenden Folgen legte die Vorinstanz zunächst die Rechtsprechung gemäss BGE 125 V 193 E. 4c dar, welche zusammengefasst dahingeht, dass es bei einer bloss einmaligen Meldepflichtverletzung mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip nicht vereinbar ist, einen Versicherten mit der in Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG vorgesehenen Sanktion zu belegen, wenn er aus dem gleichen Grund bereits den Anspruch auf Arbeitslosentaggeld nach Art. 42 Abs. 2 AVIV verliert. Dies vorausgeschickt, erwog die Vorinstanz, dass der Beschwerdegegner vorliegend aufgrund seiner Meldepflichtverletzung für die Tage der Arbeitsunfähigkeit am 10. und 11. August 2023 keine Arbeitslosenentschädigung erhalten und es sich dabei um die erste Meldepflichtverletzung gehandelt habe. Eine zusätzliche zweitägige Einstellung in der Anspruchsberechtigung wegen Verletzung einer Mitwirkungspflicht gestützt auf Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG erscheine daher unverhältnismässig. Zudem sei zu berücksichtigen, dass sich der Beschwerdegegner seit seiner unverschuldeten Arbeitslosigkeit infolge längerer Krankheitsphasen kurz vor der Pensionierung nie etwas habe zuschulden kommen lassen. Sodann habe sich der Unfall am Donnerstag, 10. August 2023 um 23.45 Uhr, also kurz vor Mitternacht, ereignet und lediglich eine Arbeitsunfähigkeit bis Sonntag, 13. August 2023 und damit während eines Arbeitstags zur Folge gehabt. Es erscheine auch glaubhaft, dass der Beschwerdegegner aufgrund dieser besonderen Konstellation mit nur einem betroffenen Arbeitstag keine böswillige Absicht beim Ausfüllen des Formulars gehabt habe. Insbesondere sei nicht davon auszugehen, dass er die Auskunftspflicht absichtlich verletzt habe, um sich Versicherungsleistungen zu erschleichen. Aufgrund der Gesamtumstände sei eine zusätzliche Einstellung nach Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG unverhältnismässig, weshalb davon abzusehen sei.
5.
5.1. Was die Arbeitslosenkasse dagegen einwendet, ist begründet. Gemäss der von der Vorinstanz zitierten Rechtsprechung gemäss BGE 125 V 193 E. 4c ist es mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip nicht vereinbar, den Versicherten bei einer bloss einmaligen Meldepflichtverletzung gestützt auf Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er aus dem gleichen Grund bereits den Anspruch auf Arbeitslosentaggelder gemäss Art. 42 Abs. 2 AVIV verloren hat. Wie aus dem erwähnten Urteil hervorgeht, bestand das Fehlverhalten des dort betroffenen Versicherten einzig darin, dass er seine Arbeitsunfähigkeit nicht gemeldet hatte. Wie in E. 4c des Urteils weiter festgehalten wird, ist diese Situation jedoch von derjenigen zu unterscheiden, in der gleichzeitig verschiedene oder mehrere gleichartige Gründe für die Einstellung vorliegen, so dass mehrere Sanktionen gerechtfertigt sind (vgl. BGE 130 V 385 E. 3.1.2). Eine solche Konstellation ist hier gegeben. Zunächst hat der Beschwerdegegner seine Meldepflicht nach Art. 42 Abs. 2 AVIV verletzt, indem er seine Arbeitsunfähigkeit nicht innerhalb einer Woche nach seinem Unfall vom 10. August 2023 dem RAV gemeldet hat. Nebst dieser Unterlassung hat er später im Formular "Angaben der versicherten Person" für den Monat August 2023 eine unwahre Angabe gemacht, indem er eine Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich verneint hat. Wie die Arbeitslosenkasse zu Recht geltend macht, ist somit die Praxis im Sinne von BGE 125 V 193 E. 4c im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Auch die von der Vorinstanz zusätzlich ins Feld geführten Umstände lassen nicht den Schluss zu, dass die Einstellung in der Anspruchsberechtigung unverhältnismässig erscheint und deshalb von vornherein auf eine solche Sanktion verzichtet werden müsste. In diesem Zusammenhang ist mit der Arbeitslosenkasse darauf hinzuweisen, dass die Absicht, unrechtmässig Arbeitslosenentschädigung zu erwirken, keine Tatbestandsvoraussetzung von Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG darstellt (Urteil C 288/06 vom 27. März 2007 E. 2 am Ende). Die diesbezüglichen Überlegungen der Vorinstanz zielen daher an der Sache vorbei.
5.2. Die Arbeitslosenkasse hat den Beschwerdegegner folglich zu Recht wegen unwahrer Angaben nach Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG in der Anspruchsberechtigung eingestellt. Der gegenteilige Schluss der Vorinstanz verletzt Bundesrecht. Die Beschwerde ist insoweit begründet.
6.
Die Dauer der von der Beschwerdeführerin verfügten Einstellung von zwei Tagen wurde vom kantonalen Gericht noch nicht beurteilt. Die Beschwerdeführerin ist jedoch lediglich von einem leichten Verschulden des Beschwerdegegners ausgegangen; zudem hat sie sich mit der Dauer am untersten Rand des Rahmens von Art. 45 Abs. 3 lit. a AVIV orientiert, welcher eine Einstellung von 1 bis 15 Tagen vorsieht. Dass sie insoweit das ihr zustehende Ermessen überschritten hätte, ist - selbst wenn die vorstehenden Ausführungen in E. 1.2 zu berücksichtigen wären - nicht ersichtlich. Eine Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Beurteilung der Einstelldauer würde daher insgesamt zu einem formalistischen Leerlauf und zu unnötigen Verzögerungen führen, die mit dem Interesse des Beschwerdegegners an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht vereinbar wären (vgl. Urteil 8C_401/2023 vom 19. Februar 2024 E. 6.2).
7.
Die Beschwerde der Arbeitslosenkasse ist somit begründet. Das kantonale Urteil ist aufzuheben und der Einspracheentscheid der Arbeitslosenkasse vom 9. Januar 2024 ist zu bestätigen.
8.
Angesichts der letztinstanzlich strittigen Einstelldauer von lediglich zwei Tagen rechtfertigt es sich, die Arbeitslosenkasse auf den römisch-rechtlichen Grundsatz "de minimis non curat praetor" (um Geringfügigkeiten kümmert sich der Richter nicht, zitiert nach BENKE/MEISSEL, Juristenlatein, 4. Auflage, Bern 2021, S. 99) hinzuweisen. Auch wenn dieser Grundsatz für die vorliegende Streitsache im BGG keinen Niederschlag gefunden hat, steht es der Arbeitslosenkasse frei, sich bei ihrem Entscheid, ob sie eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht erheben will, an diese Regel zu erinnern.
9.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2024 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Arbeitslosenkasse des Kantons St. Gallen vom 9. Januar 2024 bestätigt.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. März 2025
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Viscione
Der Gerichtsschreiber: Walther