8C_208/2024 19.03.2025
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_208/2024
Urteil vom 19. März 2025
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Viscione, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.
Verfahrensbeteiligte
Suva, Abteilung Militärversicherung,
Service Center, 6009 Luzern,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Militärversicherung (Rückerstattung),
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 26. Februar 2024 (200 23 757 IV).
Sachverhalt:
A.
Der 1962 geborene A.________ erlitt als Gymnasiast am 1. August 1983 anlässlich eines "Jugend + Sport"-Kurses bei einem Autounfall eine komplette Paraplegie. In der Folge übernahm die Schweizerische Versicherungsanstalt, Abteilung Militärversicherung (nachfolgend Suva-MV), die gesetzlichen Leistungen. A.________ meldete sich ebenfalls bei der Invalidenversicherung an, die Sachleistungen gewährte und den Fall 1994 abschloss, nachdem A.________ durch seine Ausbildung rentenausschliessend eingegliedert war. Mit Verfügung vom 7. Mai 2008 sprach ihm die Suva-MV eine 10%ige Invalidenrente zu, die sie auf den 1. Mai 2008 mit Fr. 204'331.85 auskaufte.
A.a. Am 1. September 2016 ersuchte A.________ die Suva-MV unter Hinweis auf eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands um Renten- und Taggeldleistungen. Mit Verfügung vom 20. Juni 2018 sprach ihm die Suva-MV ab 1. Juli 2018 unter Anrechnung des im Jahr 2008 erfolgten Rentenauskaufs eine Invalidenrente von 50 % zu. Sie lehnte es ab, für die Zeit vor 2016 zusätzliche Taggelder zu den bereits erbrachten zu leisten. Hieran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 6. Januar 2020 fest. Die dagegen erhobene Beschwerde des A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 16. August 2021 ab. Es nahm eine reformatio in peius vor und stellte fest, dass A.________ keinen Anspruch auf eine zusätzliche Invalidenrente habe. Einen Taggeldanspruch verneinte es für genau bestimmte Zeitspannen. Betreffend das in den übrigen Zeiten ab 2012 ausgerichtete Taggeld wies es die Sache an die Suva-MV zu neuer Verfügung zurück. Das Bundesgericht wies mit Urteil 8C_643/2021 vom 26. April 2022 die hiergegen gerichtete Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
A.b. Am 27. Oktober 2014 hatte sich A.________ auch bei der IV-Stelle erneut zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle sprach ihm ab 1. April 2015 eine Viertelsrente und ab 1. Januar 2016 eine halbe Invalidenrente zu (Verfügungen vom 28. Mai 2021). Nachdem die Schweizerische Ausgleichskasse (SAK) der Suva-MV mit Datum vom 28. Mai 2021 die Nachzahlung von IV-Leistungen in der Höhe von Fr. 55'947.- angezeigt hatte, stellte diese am 30. Juni 2021 einen Verrechnungsantrag im Betrag von Fr. 28'307.30. Mit gleichentags erlassener (unangefochten gebliebener) Verfügung teilte die Suva-MV A.________ mit, es liege eine Überentschädigung in der Höhe von Fr. 28'307.30 vor und sie habe diesen Betrag bei der Ausgleichskasse zur Verrechnung mit der ihm zustehenden Nachzahlung geltend gemacht; sollte das laufende Beschwerdeverfahren zu Veränderungen der Kürzungsberechnung führen, werde die Berechnung entsprechend angepasst. Mit Verfügung vom 13. Juli 2021 hielt die Zentrale Ausgleichsstelle (ZAS) zugunsten von A.________ einen Saldo von Fr. 26'418.70 fest, wobei sie von der Rentennachzahlung über Fr. 55'947.- den Betrag von Fr. 1'221.- an den Regionalen Sozialdienst und von Fr. 28'307.30 an die Suva-MV in Abzug brachte. Diese Verfügung erwuchs in Rechtskraft. Gestützt darauf sowie auf den Verrechnungsantrag der Suva-MV vom 30. Juni 2021 veranlasste die ZAS am 7. September 2021 die Überweisung von Fr. 28'307.30 an die Suva-MV. Gleichentags erfolgte eine Abrechnung der SAK an A.________.
A.c. Die gegen die Verfügungen der IV-Stelle vom 28. Mai 2021 erhobenen Beschwerden wies das Verwaltungsgericht ab, soweit es darauf eintrat. In Verneinung eines Rentenanspruchs hob es die Verfügungen vom 28. Mai 2021 auf (Urteil vom 8. Februar 2022), nicht ohne A.________ zuvor auf die Möglichkeit einer Schlechterstellung und eines Beschwerderückzugs aufmerksam gemacht zu haben. Dieses Urteil bestätigte das Bundesgericht auf Beschwerde hin, soweit es darauf eintrat (Urteil 8C_177/2022 vom 13. Juli 2022).
In der Folge forderte die ZAS mit Verfügung vom 30. August 2022 von der Suva-MV zu Unrecht bezahlte Leistungen in der Höhe von Fr. 28'307.30 zurück. Hiergegen erhob die Suva-MV entsprechend der Rechtsmittelbelehrung Einsprache. Nachdem die Rückerstattungsverfügung vom 30. August 2022 mit Schreiben vom 26. Februar 2023 aufgehoben wurde, erliess die IV-Stelle am 25. September 2023 eine neue, gleichlautende Rückerstattungsverfügung.
B.
Die dagegen von der Suva-MV geführte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 26. Februar 2024 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva-MV die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils vom 26. Februar 2024.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schliesst sinngemäss ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde, ohne einen expliziten Antrag in der Sache zu stellen.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militärversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie den Rückerstattungsanspruch der Beschwerdegegnerin gestützt auf die Pflicht zur Rückerstattung zu Unrecht bezogener Leistungen nach Art. 25 Abs. 1 und 2 ATSG bejahte.
2.2. Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 ATSG). Nach Art. 25 Abs. 2 ATSG (in der seit dem 1. Januar 2021 in Kraft stehenden Fassung) erlischt der Rückforderungsanspruch mit Ablauf von drei Jahren, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Bei den genannten Fristen handelt es sich um Verwirkungsfristen (BGE 140 V 521 E. 2.1 mit Hinweisen).
Rückerstattungspflichtig sind insbesondere der Bezüger der unrechtmässig gewährten Leistungen und Dritte oder Behörden, mit Ausnahme des Vormundes oder der Vormundin, denen Geldleistungen zur Gewährleistung zweckgemässer Verwendung nach Art. 20 ATSG oder den Bestimmungen der Einzelgesetze ausbezahlt wurden (Art. 2 Abs. 1 lit. a und b ATSV). Der Anspruch des Versicherers auf Rückerstattung richtet sich im Umfang, in welchem die unrechtmässig gewährten Leistungen gemäss der Regelung der einzelnen Sozialversicherungen mit Nachzahlungen anderer Sozialversicherungen verrechnet werden können, gegen den nachzahlungspflichtigen Versicherer (Art. 2 Abs. 3 ATSV). Wer unrechtmässige Leistungen lediglich als Inkasso- oder Zahlstelle entgegengenommen hat, ist nicht rückerstattungspflichtig (BGE 147 V 369 E. 2.2; 140 V 233 E. 3.1 und 3.3; 118 V 214 E. 4a; 110 V 10 E. 2b; vgl. auch BGE 142 V 358 mit Blick auf Art. 35a BVG).
2.3. Zu Unrecht bezogene Geldleistungen, die auf einer formell rechtskräftigen Verfügung beruhen, können, unabhängig davon, ob die zur Rückforderung Anlass gebenden Leistungen förmlich oder formlos verfügt worden sind, nur zurückgefordert werden, wenn entweder die für die Wiedererwägung (wegen zweifelloser Unrichtigkeit und erheblicher Bedeutung der Berichtigung; Art. 53 Abs. 2 ATSG) oder die für die prozessuale Revision (wegen vorbestehender neuer Tatsachen oder Beweismittel; Art. 53 Abs. 1 ATSG) geltenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. BGE 150 V 249 E. 3.2; 142 V 259 E. 3.2; 130 V 318 E. 5.2).
Bildete jedoch ein nicht rechtskräftiger Entscheid Basis für die zu Unrecht ausbezahlte Invalidenrente, muss kein Grund für eine prozessuale Revision oder Wiedererwägung vorliegen, um die Rückerstattung zu verlangen (Urteile 8C_106/2024 vom 8. August 2024 E. 4.2; 9C_684/2023 vom 20. Juni 2024 E. 5.1.2; mit weiteren Hinweisen; 8C_468/2007 vom 6. Dezember 2007 E. 6.2.2).
3.
3.1. Die Vorinstanz stellte fest, es sei unbestritten, dass die Beschwerdeführerin am 7. September 2021 aufgrund ihres Verrechnungsantrags infolge Überentschädigung den Betrag von Fr. 28'307.30 erhalten habe. Ein rechtskräftiger Entscheid über den (fehlenden) IV-Rentenanspruch des Versicherten sei jedoch erst mit Urteil 8C_177/2022 vom 13. Juli 2022 vorgelegen. Die im Rahmen der Rückerstattung zu beachtende relative 90-tägige Frist für die prozessuale Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG sei durch die erste Verfügung der ZAS vom 30. August 2022 gewahrt worden. Ebenfalls gewahrt sei die relative dreijährige Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG, weshalb ein Rückerstattungsanspruch der Beschwerdegegnerin in der Höhe von Fr. 28'307.30 zu bejahen sei.
3.2. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, die Beschwerdegegnerin habe die relative Frist von 90 Tagen für den Erlass einer Rückerstattungsverfügung verpasst. Die ZAS als sachlich unzuständige Bundesbehörde könne nicht fristwahrend anstelle einer kantonalen Behörde handeln. Ihre Rückerstattungsverfügung vom 30. August 2022 leide an einem derart schweren Mangel, dass sie nichtig sei. Aufgrund der Rücknahme der Verfügung habe die Beschwerdeführerin überdies darauf vertrauen dürfen, dass materiell keine Rückforderung (mehr) bestehe. Aus Gründen der Rechtssicherheit könne die tatsächlich zuständige Behörde nicht nach über einem Jahr mit einer gleichlautenden Verfügung einen Rückforderungsanspruch geltend machen.
4.
4.1. Es ist unbestritten, dass die ZAS für den Erlass der Rückerstattungsverfügung vom 30. August 2022 unzuständig war und sie diese, ohne nähere Begründung, auf Einsprache der Beschwerdeführerin hin wieder aufhob. Am 25. September 2023 erging eine neue, inhaltlich identische Verfügung durch die Beschwerdegegnerin.
4.2. Es steht fest, dass die Beschwerdegegnerin den zurückgeforderten Betrag von Fr. 28'307.30 anlässlich eines nicht rechtskräftigen Entscheids über die Nachzahlung von IV-Rentenleistungen an den Versicherten im Umfang von Fr. 55'947.- (verrechnungsweise) unter dem Titel der Überentschädigung an die Beschwerdeführerin leistete (Sachverhalt lit. A und E. 3.1 vorne). Da kein rechtskräftig gewordener Entscheid Grundlage für den geltend gemachten Rückerstattungsanspruch bildete, erübrigen sich damit - entgegen den Einwendungen der Beschwerdeführerin - Erwägungen zur Fristwahrung hinsichtlich einer prozessualen Revision als Rückkommenstitel (E. 2.3 vorne). Somit kann ebenfalls offen bleiben, ob die zurückgenommene Verfügung der ZAS vom 30. August 2022 als nichtig oder bloss anfechtbar zu qualifizieren wäre (vgl. BGE 150 II 244 E. 4.2.1; 147 IV 93 E. 1.4.4; 145 III 436 E. 4) und ob ihr mit Blick auf die Vorbringen in der Beschwerde (E. 3.2 vorne) fristwahrenden Charakter zukommen könnte.
5.
5.1. Auch letztinstanzlich bestreitet die Beschwerdeführerin den Erhalt der Fr. 28'307.30 gestützt auf ihren Verrechnungsantrag nicht. Es ist ebenso offensichtlich, dass aufgrund des Urteils 8C_177/2022 vom 13. Juli 2022 dieser Betrag zu Unrecht an sie ausgerichtet wurde. Insoweit ist nicht verständlich, weshalb sich die Beschwerdeführerin als Trägerin einer Sozialversicherung gegen ihre Rückerstattungspflicht wehrt.
5.2. Die Einwendungen der Beschwerdeführerin richten sich einzig gegen die Einhaltung der relativen 90-tägigen Frist zur Durchführung einer prozessualen Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG, die, wie dargelegt, an der Sache vorbei zielen (E. 4.2 vorne). Vielmehr ist nur die Fristwahrung nach Art. 25 Abs. 2 ATSG zu prüfen. Die relative Verwirkungsfrist von drei Jahren seit Kenntnis des Rückerstattungsanspruchs (vgl. E. 5.2 vorne) ist mit dem Erlass der Verfügung vom 25. September 2023 ohne Weiteres gewahrt. Inwiefern die Rechtssicherheit durch den Zeitablauf zwischen der Rücknahme der ersten Verfügung am 26. Februar 2023 und der neuen Verfügung durch die IV-Stelle am 25. September 2023 verletzt sein soll, wird in der Beschwerde nicht näher substanziiert und ist nicht ersichtlich. Das vorinstanzliche Urteil ist demnach zu bestätigen.
6.
Entsprechend dem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da sich zwei Sozialversicherungsträger gegenüberstehen, gilt hierbei der ordentliche Rahmen nach Art. 65 Abs. 3 BGG, während Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG keine Anwendung findet (SVR 2012 UV Nr. 9 S. 32, 8C_503/2011 E. 4).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 19. März 2025
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Viscione
Die Gerichtsschreiberin: Polla