9C_310/2023 19.12.2023
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_310/2023
Urteil vom 19. Dezember 2023
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber,
Gerichtsschreiber Businger.
Verfahrensbeteiligte
A.________ AG,
vertreten durch Rechtsanwalt Visar Keraj,
Beschwerdeführerin,
gegen
Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Mehrwertsteuer,
Schwarztorstrasse 50, 3003 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2017 und 2018,
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2023 (A-2321/2021).
Sachverhalt:
A.
Die A.________ AG (nachfolgend: Steuerpflichtige) mit Sitz in U.________ bezweckt gemäss Handelsregistereintrag insbesondere den Handel mit Immobilien sowie alle Dienstleistungen im Immobilienbereich. Sie ist seit 2016 bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen eingetragen. Verwaltungsrat ist B.________, der einzelzeichnungsberechtigt ist.
B.
B.a. Nachdem die Steuerpflichtige ihre Mehrwertsteuerabrechnungen für die Steuerperioden 2016 bis 2018 nur unregelmässig eingereicht hatte, ermittelte die ESTV den geschuldeten Steuerbetrag provisorisch aufgrund einer Schätzung nach pflichtgemässem Ermessen. Dabei stützte sie sich auf die von der Steuerpflichtigen deklarierten Angaben (zu Steuer vom Umsatz und Vorsteuerabzug) ab.
B.b. Am 29. November 2019 führte die ESTV eine Mehrwertsteuerkontrolle bei der Steuerpflichtigen durch. Dabei stellte sie u.a. fest, dass die Buchführung mangelhaft sei und Belege und Unterlagen fehlten. Nachdem die Unterlagen nicht nachgereicht wurden, erliess die ESTV am 15. Juni 2020 eine Einschätzungsmitteilung und setzte die Steuer (nach) forderungen betreffend die Steuerperioden 2016 bis 2018 ohne weitere Korrekturen im Vergleich zur provisorischen Schätzung fest. Dies führte zu Steuern von Fr. -153'584.- (2016), Fr. 22'842.- (2017) und Fr. 29'800.- (2018).
B.c. Nachdem die Steuerpflichtige die Aufhebung der Einschätzungsmitteilung und die Neufestsetzung der Steuern beantragt hatte, erliess die ESTV am 17. November 2020 eine Verfügung und bestätigte die Ermessenseinschätzung. Dagegen erhob die Steuerpflichtige Einsprache und reichte u.a. für die Jahre 2017 und 2018 Mehrwertsteuerabrechnungen, Journale sowie eine (für das Jahr 2018 provisorische) Bilanz und Erfolgsrechnung ein. Die ESTV wies die Einsprache am 13. April 2021 ab und erwog, die offensichtliche Unrichtigkeit der Schätzung sei nicht nachgewiesen worden. Diesen Entscheid bestätigte das von der Steuerpflichtigen angerufene Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 14. März 2023.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 5. Mai 2023 beantragt die Steuerpflichtige dem Bundesgericht, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz, eventualiter an die ESTV, zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Steuerforderung auf Fr. 10'970.45 (2017) und Fr. 10'474.10 (2018) festzusetzen.
Während das Bundesverwaltungsgericht auf das angefochtene Urteil verweist, schliesst die ESTV auf Abweisung der Beschwerde. Die Steuerpflichtige repliziert.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein Endentscheid des Bundesverwaltungsgerichts in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. a und Art. 90 BGG). Auf die form- und fristgerechte Eingabe (Art. 42 und Art. 100 Abs. 1 BGG) der legitimierten Beschwerdeführerin (Art. 89 Abs. 1 BGG) ist einzutreten.
2.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Verfahren lediglich die Steuerperioden 2017 und 2018 im Streit liegen. Zwar bezieht sich das vorinstanzliche Urteil auch auf die Steuerperiode 2016, doch bringt die Beschwerdeführerin vor, dass sie bereits ihre Einsprache auf die Steuerperioden 2017 und 2018 beschränkt habe, und stellt sie vor Bundesgericht lediglich in Bezug auf die Steuerperioden 2017 und 2018 Anträge.
3.
3.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten können Rechtsverletzungen nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Vorbringen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6). Die Verletzung von Grundrechten sowie von kantonalem und interkantonalem Recht untersucht es in jedem Fall nur insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2).
3.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 147 V 35 E. 4.2). Die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen können von Amtes wegen oder auf Rüge hin berichtigt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 und Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 147 V 16 E. 4.1.1). "Offensichtlich unrichtig" ist mit "willkürlich" gleichzusetzen (vgl. zum Ganzen: BGE 146 IV 88 E. 1.3.1). Die Anfechtung der vorinstanzlichen Feststellungen unterliegt der qualifizierten Rüge- und Begründungsobliegenheit (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 IV 73 E. 4.1.2).
4.
Formelle Rügen und Sachverhaltsrügen können ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen, weshalb sie vorab zu behandeln sind (Urteil 9C_606/2022 vom 6. Juni 2023 E. 3 m.H.). Zuerst ist deshalb auf die Rügen einzugehen, die Vorinstanz habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt und das rechtliche Gehör verletzt.
4.1. In Bezug auf den Sachverhalt bringt die Beschwerdeführerin vor, die Vorinstanz habe nicht alle eingereichten Belege aufgeführt, die Mehrwertsteuerabrechnungen und Journale zu Unrecht als provisorisch bezeichnet und die Unterlagen nicht gewürdigt.
Aus den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen ergibt sich hinreichend, welche Belege die Beschwerdeführerin mit ihren Eingaben eingereicht hat. Die Vorinstanz war nicht gehalten, jeden Beleg separat aufzuführen. Was die Bezeichnung der im Einspracheverfahren eingereichten Mehrwertsteuerabrechnungen und Journale als provisorisch betrifft (vgl. E. 3.3.1 des angefochtenen Urteils), hat es keinen Einfluss auf den Verfahrensausgang, ob die Abrechnungen und Journale als provisorisch oder definitiv qualifiziert werden (vgl. hinten E. 7.2.2). Schliesslich betrifft der Vorwurf, die Unterlagen seien unzutreffend gewürdigt worden, nicht die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, sondern die materielle Beurteilung.
4.2. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der Begründungspflicht. Die Vorinstanzen hätten ausgeführt, die Schätzungen basierten auf den von ihr selbst deklarierten Beträgen, ohne anzugeben, wann und wo sie diese Beträge deklariert habe.
Die ESTV hat bereits in der Verfügung vom 17. November 2020 erwogen, die Festsetzung der Steuerforderung basiere auf der Deklaration der Beschwerdeführerin. Es ist weder ersichtlich noch behauptet die Beschwerdeführerin, sie habe im Verfahren vor den Vorinstanzen geltend gemacht, dass sie die entsprechenden Zahlen nicht deklariert habe. War somit im bisherigen Verfahren unbestritten, dass die Schätzung der ESTV auf den deklarierten Beträgen der Beschwerdeführerin beruht, war die Vorinstanz nicht verpflichtet, hierzu nähere Ausführungen zu machen. Eine Verletzung der Begründungspflicht liegt nicht vor.
4.3. Als weitere Gehörsverletzung bringt die Beschwerdeführerin vor, die Vorinstanzen hätten ihre mit der Einsprache eingereichten Belege nicht berücksichtigt.
Auch diese Rüge ist unbegründet. Beide Vorinstanzen haben die im Einspracheverfahren eingereichten Unterlagen der Beschwerdeführerin zur Kenntnis genommen, aber erwogen, dass sie damit die offensichtliche Unrichtigkeit der Schätzung nicht nachgewiesen habe (vgl. E. 3.3.3.1 des angefochtenen Urteils). Ob sie dies zu Recht getan haben, beschlägt nicht das rechtliche Gehör, sondern die materielle Beurteilung.
4.4. Die Beschwerdeführerin sieht auch eine Gehörsverletzung (und weitere Rechtsverletzungen) im Umstand, dass die Vorinstanz die Voraussetzungen einer Fristwiederherstellung geprüft habe, obwohl sie kein entsprechendes Gesuch gestellt habe.
Die Beschwerdeführerin hat vor Bundesverwaltungsgericht geltend gemacht, die frühere Einreichung der geforderten Unterlagen sei nicht am Willen des Verwaltungsrats gescheitert; verantwortlich seien seine psychische Erkrankung und widrige Umstände (Dauerstress) gewesen (S. 8 f. der Beschwerde vom 14. Mai 2021 an das Bundesverwaltungsgericht). Selbst wenn diese Ausführungen nicht auf eine Fristwiederherstellung abgezielt haben sollten, ist die Beschwerdeführerin offensichtlich nicht dadurch beschwert, dass die Vorinstanz eine Fristwiederherstellung geprüft hat. Es ist widersprüchlich, wenn sie vor Bundesgericht geltend macht, sie habe kein Fristwiederherstellungsgesuch gestellt, aber gleichzeitig rügt, sie habe sich im vorinstanzlichen Verfahren zur Fristwiederherstellung nicht adäquat äussern bzw. keine Beweise beibringen können. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, durch das Vorgehen der Vorinstanz werde sie daran gehindert, später ein begründetes Gesuch um Fristwiederherstellung zu stellen, ist darauf hinzuweisen, dass ein solches Gesuch mittlerweile offensichtlich verspätet wäre (vgl. hinten E. 5.3.1). Vor diesem Hintergrund ist im Vorgehen der Vorinstanz weder eine Gehörs- noch eine anderweitige Rechtsverletzung zu sehen.
4.5. Schliesslich rügt die Beschwerdeführerin in ihrer Replik, dass sie im Einspracheverfahren angeboten habe, die ESTV könne neben den eingereichten Unterlagen weitere Akten vor Ort prüfen. Darauf sei die ESTV nicht eingegangen, was eine Gehörsverletzung darstelle.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass erst in der Replik erhobene Rügen grundsätzlich unzulässig sind, ausser die Vernehmlassung eines anderen Verfahrensbeteiligten gibt zu einer Beschwerdeergänzung Anlass (Urteil 9C_108/2023 vom 19. Juni 2023 E. 3 m.H.). Dies war vorliegend offensichtlich nicht der Fall. Im Übrigen erweist sich die Rüge auch als unbegründet. Nachdem die ESTV zu Recht eine Ermessenseinschätzung vorgenommen hatte (nachfolgend E. 5), war es an der Beschwerdeführerin, die offensichtliche Unrichtigkeit der Schätzung nachzuweisen (nachfolgend E. 7). Es wäre deshalb an ihr gelegen, entsprechende Unterlagen im Einspracheverfahren einzureichen, anstatt pauschal auf eine mögliche Aktenprüfung vor Ort zu verweisen. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass die ESTV bereits am 29. November 2019 eine Kontrolle vor Ort durchgeführt hatte. Von einer Gehörsverletzung bzw. einer Verletzung des Rechts auf Beweis kann deshalb keine Rede sein.
5.
In materieller Hinsicht ist streitig, ob die Beschwerdeführerin für die Steuerperioden 2017 und 2018 zu Recht nach pflichtgemässem Ermessen eingeschätzt wurde.
5.1. Die Vorinstanz hat die Verfahrenspflichten der mehrwertsteuerpflichtigen Person zutreffend dargestellt, worauf verwiesen wird (vgl. E. 2.2 des angefochtenen Urteils). Namentlich stellt die steuerpflichtige Person eigenständig fest, ob sie die Voraussetzungen der subjektiven Steuerpflicht erfüllt (Art. 66 MWSTG [SR 641.20]), ermittelt die Steuerforderung selber (Art. 71 MWSTG) und begleicht diese innerhalb von 60 Tagen nach Ablauf der Abrechnungsperiode (Art. 86 Abs. 1 MWSTG). Sie ist verpflichtet, ihre Geschäftsbücher und Aufzeichnungen nach den handelsrechtlichen Grundsätzen zu führen (Art. 70 Abs. 1 MWSTG), wobei die Buchführung Grundlage der Rechnungslegung bildet und diejenigen Geschäftsvorfälle und Sachverhalte erfasst, die für die Darstellung der Vermögens-, Finanzierungs- und Ertragslage des Unternehmens (wirtschaftliche Lage) notwendig sind (Art. 957a Abs. 1 OR). Die Rechnungslegung erfolgt im Geschäftsbericht. Dieser enthält die Jahresrechnung (Einzelabschluss), die sich aus der Bilanz, der Erfolgsrechnung und dem Anhang zusammensetzt (Art. 958 Abs. 2 OR). Der Geschäftsbericht muss innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Geschäftsjahres erstellt und dem zuständigen Organ zur Genehmigung vorgelegt werden (Art. 958 Abs. 3 OR).
Wie die Vorinstanz ebenfalls zutreffend dargelegt hat, muss die Nachvollziehbarkeit der Geschäftsvorfälle - die sog. Prüfspur - gewährleistet sein. Die Verfolgung der Geschäftsvorfälle sowohl vom Einzelbeleg über die Buchhaltung bis zur Mehrwertsteuerabrechnung als auch in umgekehrter Richtung muss ohne Zeitverlust jederzeit möglich sein (BGE 140 II 495 E. 3.4.4 m.H.; vgl. E. 2.2.3 des angefochtenen Urteils).
Liegen keine oder nur unvollständige Aufzeichnungen vor oder stimmen die ausgewiesenen Ergebnisse mit dem wirklichen Sachverhalt offensichtlich nicht überein, so schätzt die ESTV die Steuerforderung nach pflichtgemässem Ermessen ein (Art. 79 Abs. 1 MWSTG).
5.2. Die Vorinstanz erwog, die ESTV habe der Beschwerdeführerin detailliert bekannt gegeben, welche Unterlagen zur Festsetzung der Steuern benötigt würden, namentlich die Bilanz und Erfolgsrechnung 2018, Kontodetails 2018 und sämtliche Debitoren- und Kreditorenbelege 2016-2018, wobei sich die Verpflichtung zur Einreichung dieser Unterlagen bereits aus dem Gesetz ergeben habe. Die Beschwerdeführerin habe mehrmals angekündigt, die fehlenden Unterlagen (auch vor Bundesverwaltungsgericht) nachzureichen. Bis zum Urteilszeitpunkt habe sie u.a. die vollständigen Kopien der Buchhaltungsunterlagen 2017 und 2018, die Kreditoren- und Debitorenbelege 2016-2018, eine definitive Bilanz und Erfolgsrechnung für das Jahr 2018 und definitive Mehrwertsteuerabrechnungen nicht eingereicht. Es lägen gravierende Verstösse gegen die formellen Buchhaltungsvorschriften vor, die die materielle Richtigkeit der Buchhaltungsergebnisse infrage stellten. Wegen dieser Mängel sei die ESTV verpflichtet gewesen, den massgebenden Umsatz ermessensweise zu ermitteln (vgl. E. 3.1.3 des angefochtenen Urteils).
5.3. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass sie die erwähnten Unterlagen im Veranlagungsverfahren nicht eingereicht hatte. Sie verweist auf die Krankheit ihres Verwaltungsrats und seine Stellung als "Teil-/Eigentümer/Verwaltungsrat/CEO" von 20 Gesellschaften sowie auf arbeitsintensive Steuerverfahren in mehreren Kantonen. Die Nichteinhaltung der angesetzten Fristen zur Einreichung der Unterlagen sei nicht verschuldet gewesen. Weiter bringt sie vor, das Vorgehen der ESTV sei überspitzt formalistisch gewesen. Weil die Verjährung der Steuerforderung nicht gedroht habe, hätte die ESTV weitere Fristerstreckungen gewähren bzw. für "eine gemeinsame und vernünftige Lösung" Hand bieten müssen.
5.3.1. Wird geltend gemacht, die Nichteinhaltung einer Frist sei nicht verschuldet gewesen, kommt grundsätzlich eine Fristwiederherstellung infrage, die ein entsprechendes Gesuch voraussetzt (Art. 24 Abs. 1 VwVG [SR 172.021]). Nachdem die Beschwerdeführerin ausdrücklich geltend macht, sie habe kein Gesuch gestellt, ist darauf nicht weiter einzugehen. Anzufügen ist lediglich, dass das Gesuch innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden muss; dabei ist nicht massgebend, wann die Beschwerdeführerin bzw. ihr Verwaltungsrat selber in der Lage sind, ein Gesuch zu stellen und die versäumte Handlung nachzuholen. Es genügt, dass sie in der Lage sind, eine Hilfsperson damit zu beauftragen (BGE 119 II 86 E. 2a; 112 V 255 E. 2a; Urteil 9C_622/2022 vom 6. Februar 2023 E. 6.3.1). Nachdem die Beschwerdeführerin sowohl im vorinstanzlichen Verfahren als auch vor Bundesgericht anwaltlich vertreten wird, ist dies offensichtlich der Fall. Damit wäre ein Gesuch, dass sich die Beschwerdeführerin für einen späteren Zeitpunkt vorbehält, offensichtlich verspätet.
5.3.2. Was das Vorgehen der ESTV betrifft, so ergibt sich aus den vorinstanzlichen Erwägungen, dass die ESTV der Beschwerdeführerin mehrfach Gelegenheit gab, die genau bezeichneten Unterlagen einzureichen (vgl. E. 3.1.3.1 des angefochtenen Urteils). Sie war weder aufgrund der Krankheit des Verwaltungsrats noch angesichts seiner Arbeitsüberlastung verpflichtet, weitere Fristerstreckungen zu gewähren. Weder aus der Sachdarstellung der Beschwerdeführerin noch aus den Arztzeugnissen geht hervor, inwieweit der Verwaltungsrat aus medizinischen Gründen daran gehindert gewesen sein soll, zumindest eine Drittperson mit der Einreichung der entsprechenden Unterlagen zu beauftragen, was bereits die Vorinstanz zutreffend erwogen hat (vgl. E. 3.3.3.3 des angefochtenen Urteils). Dass der Verwaltungsrat als "Teil-/Eigentümer/Verwaltungsrat/ CEO" von 20 Gesellschaften und angesichts zahlreicher Steuerverfahren in verschiedenen Kantonen überlastet gewesen sein soll, ist zwar nicht ausgeschlossen; er bzw. die Beschwerdeführerin haben sich aber so zu organisieren, dass sie ihre administrativen Verpflichtungen - allenfalls unter Beizug von Hilfspersonen - erfüllen können. Vor diesem Hintergrund ist das Vorgehen der ESTV nicht zu beanstanden, und zwar unabhängig davon, ob die Verjährung der Steuerforderung gedroht hat. Die Ermessenseinschätzung ist damit zu Recht erfolgt.
6.
6.1. In einem zweiten Schritt hat die Vorinstanz die von der ESTV angewandte Schätzungsmethode geprüft und erwogen, die Schätzung basiere gänzlich auf den von der Beschwerdeführerin selbst deklarierten Beträgen. Für die Jahre 2016-2018 hätten keine Belege und für das Jahr 2018 keine brauchbaren Teile der Buchhaltung vorgelegen, weshalb die ESTV solche Unterlagen nicht habe berücksichtigen können. Das Vorgehen der ESTV sei nicht zu beanstanden, zumal dadurch den individuellen Verhältnissen im Betrieb der Beschwerdeführerin soweit als möglich Rechnung getragen worden sei (vgl. E. 3.2.2 des angefochtenen Urteils).
Die Beschwerdeführerin hält dem entgegen, die Vorinstanz unterliege einem Irrtum, wenn sie davon ausgehe, die ESTV habe die von ihr deklarierten Zahlen übernommen. Sie habe erst im Einspracheverfahren ihre Deklaration für die Steuerjahre 2017 und 2018 eingereicht; die ESTV habe diese Zahlen nicht berücksichtigt.
6.2. Wie erwähnt (vgl. vorne E. 4.2), hat die ESTV bereits in der Verfügung vom 17. November 2020 erwogen, die Festsetzung der Steuerforderung basiere auf der Deklaration der Beschwerdeführerin, und ist weder ersichtlich noch macht die Beschwerdeführerin geltend, sie habe im Verfahren vor den Vorinstanzen etwas Gegenteiliges behauptet. Im Gegenteil hat sie in ihrer Einsprache vom 4. Januar 2021 die Angaben der ESTV zur deklarierten Umsatz- und Bezugsteuer samt dem Hinweis übernommen, dass keine Differenz zwischen Steuerforderung und deklarierter Steuer bestehe. Ihr Einwand vor Bundesgericht, sie habe die entsprechenden Werte gar nie deklariert, stellt folglich eine neue Tatsache dar, zu der der angefochtene Entscheid keinen Anlass gibt und die nach Art. 99 Abs. 1 BGG nicht zulässig ist. Darauf ist nicht weiter einzugehen. Hat sich die ESTV damit mit ihrer Schätzung an der Deklaration der Beschwerdeführerin orientiert, ist nicht ersichtlich, inwieweit sie zusätzlich frühere Veranlagungen oder branchenspezifische Erfahrungszahlen hätte berücksichtigen müssen.
7.
Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin die Schätzung in quantitativer Hinsicht.
7.1. Nachdem die Ermessenseinschätzung zu Recht erfolgt ist, obliegt es der steuerpflichtigen Person, die Unrichtigkeit der Schätzung nachzuweisen (Urteil 2C_970/2012 vom 1. April 2013 E. 4.2). Dabei gehört die Bewertung oder Schätzung zu den Tatfragen, was eine Prüfung nur unter dem Blickwinkel der offensichtlichen Unrichtigkeit bzw. Willkür zulässt. Infolgedessen prüft das Bundesgericht das Ergebnis einer Bewertung oder Schätzung nur auf offensichtliche Fehler und Irrtümer hin. Erhebt die steuerpflichtige Person Beschwerde ans Bundesgericht, kann sie sich nicht darauf beschränken, die Kalkulationsgrundlagen der Ermessensveranlagung allgemein zu kritisieren; sie muss vielmehr nachweisen, dass die von der ESTV vorgenommene Schätzung offensichtlich unrichtig ist (Urteile 2C_27/2021 vom 5. Oktober 2021 E. 3.1.4 m.H.; 2C_812/2013 / 2C_813/2013 vom 28. Mai 2014 E. 2.4.3).
7.2. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, sie habe den Nachweis der (offensichtlichen) Unrichtigkeit im Einspracheverfahren erbracht, indem sie zahlreiche Belege eingereicht habe. Diese seien von den Vorinstanzen zu Unrecht nicht berücksichtigt worden.
7.2.1. Die Beschwerdeführerin hat mit ihrer Einsprache vom 4. Januar 2021 die Mehrwertsteuerabrechnungen und Journale eingereicht. Zudem reichte sie mit Eingabe vom 15. Februar 2021 namentlich die Bilanz und Erfolgsrechnung sowie die Kontodetails für das Jahr 2017 und eine provisorische Bilanz und Erfolgsrechnung sowie provisorische Kontodetails für das Jahr 2018 ein. Dagegen bestreitet sie nicht, dass sie bis zur Fällung des angefochtenen Urteils für die hier streitigen Steuerperioden 2017 und 2018 weder vollständige Kopien der Buchhaltungsunterlagen, Kreditoren- und Debitorenbelege noch für das Jahr 2018 eine definitive Bilanz und Erfolgsrechnung vorgelegt hat (vgl. E. 3.1.3.3 des angefochtenen Urteils).
7.2.2. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Nachvollziehbarkeit der Geschäftsvorfälle gewährleistet sein bzw. die Verfolgung der Geschäftsvorfälle sowohl vom Einzelbeleg über die Buchhaltung bis zur Mehrwertsteuerabrechnung als auch in umgekehrter Richtung jederzeit möglich sein muss (vorne E. 5.1).
Die von der Beschwerdeführerin im Einspracheverfahren nachgereichten Unterlagen erfüllen diese Anforderungen offensichtlich nicht. Einerseits ist nicht nachvollziehbar, wie die Beschwerdeführerin ohne vollständige Buchhaltung und mangels einer definitiven Bilanz und Erfolgsrechnung für das Jahr 2018 in der Lage gewesen sein soll, definitive Mehrwertsteuerabrechnungen und Journale zu erstellen. Andererseits können die Abrechnungen und Journale, selbst wenn sie definitiv sein sollten, ohne Buchhaltung samt Einzelbelegen nicht nachvollzogen werden. Die eingereichten (provisorischen) Kontodetails genügen hierfür nicht. Auch die Bilanzen und Erfolgsrechnungen können ohne Buchhaltung nicht nachvollzogen werden, unabhängig davon, dass die Jahresrechnung 2018 entgegen den gesetzlichen Bestimmungen erst provisorisch vorliegt, was ihren Beweiswert von vornherein mindert (Urteil 2C_631/2017 vom 30. Januar 2019 E. 2.2.1).
7.2.3. Sind damit die eingereichten Unterlagen, die für das Jahr 2018 zudem grösstenteils lediglich provisorischer Natur sind, mangels vollständiger Buchhaltung und Einzelbelegen nicht nachvollziehbar, können sie die Schätzung der ESTV nicht als offensichtlich unrichtig infrage stellen. Vor diesem Hintergrund kann keine Rede davon sein, die ESTV habe ihre Untersuchungspflicht im Einspracheverfahren verletzt; es ist nicht ersichtlich, welche weiteren Untersuchungshandlungen die ESTV hätte vornehmen können, nachdem sie eine Kontrolle vor Ort durchgeführt und der Beschwerdeführerin mehrfach mitgeteilt hatte, welche Unterlagen einzureichen seien (vgl. E. 3.1.3.1 des angefochtenen Urteils). Schliesslich ist auch nicht ersichtlich, inwieweit die ESTV "die brauchbaren Teile der Buchhaltung und allenfalls vorhandene Belege" bei der Schätzung hätte berücksichtigen müssen. Nachdem die eingereichten Unterlagen nicht einmal ansatzweise geeignet waren, den Nachweis der offensichtlichen Unrichtigkeit der Schätzung zu erbringen, kam auch eine teilweise Berücksichtigung nicht infrage.
7.3. Die Beschwerdeführerin hat auch im vorinstanzlichen Verfahren keine Unterlagen eingereicht, welche die Schätzung als offensichtlich unrichtig infrage stellen. Namentlich die von ihr angekündigte Einreichung der Buchhaltungsunterlagen für die Steuerjahre 2017 und 2018 nahm sie bis zum Urteilszeitpunkt nicht vor (vgl. E. 3.1.3.3 des angefochtenen Urteils). Der Vorwurf der Beschwerdeführerin, ihr sei vom Bundesverwaltungsgericht weder mitgeteilt worden, dass die eingereichten Unterlagen nicht ausreichend seien, noch sei ihr eine Frist zur Einreichung weiterer Akten angesetzt worden, ist vor diesem Hintergrund offensichtlich unbegründet. Dasselbe gilt, soweit die Beschwerdeführerin in der Replik rügt, ihr sei nie mitgeteilt worden, dass sie noch Unterlagen hätte einreichen können. Die Beschwerdeführerin wusste seit der umfangreichen Korrespondenz mit der ESTV, welche Unterlagen sie einzureichen hatte, und beide Vorinstanzen haben ihr hierzu ausreichend Gelegenheit gegeben.
7.4. Zusammenfassend gelingt es der Beschwerdeführerin nicht, die offensichtliche Unrichtigkeit der Schätzung nachzuweisen. Damit kann sie sich auch nicht auf Art. 43 Abs. 2 und Art. 72 Abs. 2 MWSTG (Korrektur von mangelhaften Abrechnungen vor Eintritt der Rechtskraft) berufen, um ihren nachträglich eingereichten Mehrwertsteuerabrechnungen Geltung zu verschaffen. Folglich bleibt die Schätzung auch in quantitativer Hinsicht bestehen und ist die Beschwerde vollumfänglich abzuweisen.
8.
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 1-3 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung I, schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 19. Dezember 2023
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Der Gerichtsschreiber: Businger