8C_440/2023 06.08.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_440/2023
Urteil vom 6. August 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiber Walther.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
Beschwerdeführerin,
gegen
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG, Litigation,
Hagenholzstrasse 60, 8050 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang),
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 9. Mai 2023 (VBE.2022.345).
Sachverhalt:
A.
A.________, geboren 1974, verunfallte am 17. August 2002 mit dem Motorrad. Am 13. Juni 2008 erlitt sie einen Reitunfall. Ab dem 1. Dezember 2013 war A.________ bei der B.________ AG in der Administration und im Verkauf tätig und in dieser Eigenschaft neu bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG (fortan: Zürich) gegen Unfälle versichert. Am 25. April 2014 wurde sie in einem Stall von einem Pferd weggestossen, wodurch sie eine Schenkelhalsfraktur am linken Oberschenkel erlitt. Die Zürich erbrachte für dieses Ereignis die vorübergehenden Leistungen (Taggeld; Heilbehandlung). Im Rahmen der Abklärungen zog sie unter anderem die Akten der IV-Stelle des Kantons Aargau bei. Zudem veranlasste sie eine polydisziplinäre Begutachtung der Versicherten durch die Klinik C.________ (Gutachten vom 8. Dezember 2017 mit ergänzender Stellungnahme vom 7. Februar 2020). Mit Verfügung vom 1. Dezember 2021 stellte die Zürich die vorübergehenden Leistungen per 31. Januar 2018 ein und verneinte einen Anspruch der A.________ auf eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung. Auf Einsprache der Versicherten hin hielt sie daran fest (Einspracheentscheid vom 9. August 2022).
B.
Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 9. Mai 2023 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des kantonalen Urteils seien ihr die gesetzlichen Leistungen der Unfallversicherung, namentlich eine Rente und eine Integritätsentschädigung, zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Einholung eines polydisziplinären Obergutachtens und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz, subeventualiter an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.
Während die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung verzichten, beantragt die Zürich die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Vorbringen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 147 I 73 E. 2.1 mit Hinweisen).
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
Soweit das kantonale Gericht entschied, die Zürich habe die vorübergehenden Leistungen (Taggeld; Heilbehandlung) im Zusammenhang mit dem Unfall vom 25. April 2014 zu Recht per 31. Januar 2018 eingestellt, wird dies von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Streitig ist hingegen, ob es Bundesrecht verletzte, indem es den Anspruch auf eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung der Unfallversicherung verneinte. Umstritten ist dabei insbesondere, ob infolge des Unfalls bei der Beschwerdeführerin ein komplexes regionales Schmerzsyndrom Typ I (Complex regional pain syndrome type 1; fortan: CRPS) aufgetreten ist.
3.
3.1. Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen und Grundsätze zum anwendbaren Recht, namentlich zum Erfordernis des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden (BGE 142 V 435 E. 1; 129 V 177 E. 3.1; 129 V 402 E. 4.3.1) sowie zum Dahinfallen der Leistungspflicht bei Erreichen des Zustands, wie er vor dem Unfall bestand oder sich auch ohne diesen ergeben hätte (Status quo sine vel ante; BGE 146 V 51 E. 5.1), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für den im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 144 V 427 E. 3.2) und die beweisrechtlichen Anforderungen an Arztberichte im Allgemeinen (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a). Darauf kann ebenso verwiesen werden wie auf die Ausführungen der Vorinstanz zum Anspruch auf eine Integritätsentschädigung (Art. 24 Abs. 1 UVG).
3.2. Hervorzuheben ist, dass das Gericht den von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechenden Gutachten externer Spezialärzte vollen Beweiswert zuerkennen darf, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4).
4.
4.1. Die Vorinstanz stützte sich zur Beurteilung der Folgen des Unfalls vom 25. April 2014 wie bereits die Zürich auf das polydisziplinäre Gutachten der Klinik C.________ vom 8. Dezember 2017 (mit ergänzender Stellungnahme vom 7. Februar 2020). Sie erwog, die Gutachter hätten als Diagnose unter anderem einen "Status nach multiplen Unfällen" mit verschiedenen Verletzungen und Beeinträchtigungen erhoben, welche die Beschwerdeführerin unter anderem bei einem Motorradunfall vom 17. August 2002, einem Reitunfall vom 13. Juni 2008 und dem hier strittigen Unfall vom 25. April 2014 erlitten hatte. Ferner hätten sie dargelegt, dass die zurzeit noch vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht allein auf das Unfallereignis vom 25. April 2014 zurückzuführen seien. Vielmehr hätten die Beschwerden im linken Bein bereits mit dem Reitunfall vom 13. Juni 2008 begonnen und die Beschwerdeführerin sei seither nie beschwerdefrei gewesen. Durch die zusätzliche Schenkelhalsfraktur vom 25. April 2014 sei es zumindest in der Initialphase sicherlich zu einer passageren Verschlimmerung der Symptomatik und auch des CRPS im linken Bein gekommen. Die wiederholte Entwicklung eines CRPS, wie es bereits nach den Unfallereignissen der Jahre 2002 und 2008 aufgetreten sei, deute auf eine Prädisposition für diese Schmerzstörung hin. Ohne den Unfall vom 25. April 2014 wäre ein CRPS mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht aufgetreten. Unklar bleibe, ob sich die nach dem Unfall vom 13. Juni 2008 manifestierten Beschwerden im linken Bein vor dem Unfall vom 25. April 2014 jemals vollständig zurückgebildet hätten. Ein Grossteil der von der Beschwerdeführerin beschriebenen Beeinträchtigungen und der objektiven Befunde sei auf den Reitunfall vom 13. Juni 2008 sowie auf den "Sturz vom Pferd" vom 25. April 2014 zurückzuführen. Die Arbeitsfähigkeit hätten die Gutachter schliesslich dahingehend beurteilt, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Beruf als kaufmännische Angestellte aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen infolge des Unfalls vom 25. April 2014 nicht in höherem Mass eingeschränkt sei als bereits vor diesem Unfall. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit entspreche in Bezug auf zumutbare Belastungen einer angepassten Tätigkeit.
In der ergänzenden Stellungnahme vom 7. Februar 2020 seien die Gutachter dann zum Schluss gelangt, dass die in den Akten vielfach wiederholte Darstellung eines erstmals nach dem Unfall vom 25. April 2014 manifest gewordenen CRPS am linken Bein und Fuss nicht den Ausführungen in der zeitechten Dokumentation entspreche. Sie hätten dies damit begründet, dass verschiedene der erforderlichen Diagnosekriterien zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen worden seien und verschiedene Berichte dafür sprächen, dass die Symptome und Zeichen eines CRPS erst mit einer deutlichen Latenz von mindestens mehreren Monaten zum Unfall vom 25. April 2014 manifest geworden seien. Aus den Akten ergebe sich zwar eine Exazerbation der Symptomatik nach dem Unfall vom 25. April 2014. Aufgrund des Verlaufs und auch des aktuellen Zustands hätten sich jedoch zu wenig Argumente dafür ergeben, dass der Unfall zu einer richtunggebenden Verschlechterung des CRPS geführt habe. Die Gutachter hätten daher ihre noch im Gutachten vertretene Auffassung dahingehend präzisieren müssen, dass der Unfall vom 25. April 2014 offensichtlich - neben einer richtunggebenden Verschlechterung des sich jeweils im Zusammenhang mit der postulierten Prädisposition manifestierenden CRPS - auch nicht zu einer unmittelbar nach diesem Unfall eingetretenen vorübergehenden massgebenden Verschlechterung geführt habe.
4.2. In Würdigung der medizinischen Akten gelangte die Vorinstanz zum Schluss, die Einschätzungen der Gutachter der Klinik C.________ seien beweiswertig. Demnach seien die erforderlichen Diagnosekriterien für ein CRPS im Verlauf nach dem Unfall vom 25. April 2014 zunächst nicht belegt worden; die zuvor gestellten blossen Verdachtsdiagnosen reichten hierfür nicht aus. Erst ab Oktober 2015 und damit mehr als ein Jahr nach dem Unfallereignis sei vom Vorliegen der Diagnose an der linken Extremität auszugehen, weshalb sie nicht als kausal zum Unfall vom 25. April 2014 zu werten sei. Da der Unfall somit nicht zu einer massgebenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes geführt habe, überzeuge auch ohne Weiteres, dass die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin gemäss Gutachten (zumindest spätestens) im Zeitpunkt der Einstellung der vorübergehenden Leistungen am 31. Januar 2018 nicht in höherem Ausmass limitiert gewesen sei als bereits vor dem Unfallereignis.
5.
Die Beschwerdeführerin bestreitet letztinstanzlich weiterhin den Beweiswert des Gutachtens der Klinik C.________. Sie macht zunächst geltend, das in der Klinik D.________ am 8. Oktober 2015 festgestellte CRPS sei entgegen der nicht schlüssigen Einschätzung der Gutachter und den Feststellungen der Vorinstanz bereits kurze Zeit nach dem Unfall vom 25. April 2014 aufgetreten und kausal auf diesen zurückzuführen. Der Unfall habe somit zu einer dauerhaften Verschlechterung ihres Gesundheitszustands geführt. Darüber hinaus sei das Gutachten auch deshalb mangelhaft, weil es ihre Arbeitsfähigkeit nicht fundiert würdige. Die Rügen sind begründet:
5.1. Im Gutachten vom 8. Dezember 2017 erachteten es die Sachverständigen als "wenig zweifelhaft", dass die Beschwerdeführerin sowohl "vor dem Unfall vom 25. April 2014 als auch danach und auch aktuell" an einem CRPS am linken Unterschenkel und Fuss gelitten habe und leide, dies vor dem Hintergrund einer anzunehmenden Prädisposition für solche Entwicklungen bei bekanntem CRPS an der linken Hand. Wie sich zudem bereits aus der vorinstanzlichen Zusammenfassung des Gutachtens ergibt, gingen sie auch von einem Zusammenhang zwischen dem Unfall vom 25. April 2014 und dem CRPS aus (vgl. vorne E. 4.1). Nichts anderes lässt sich ihren Antworten zu den Kausalitätsfragen auf Seite 98 ff. des Gutachtens entnehmen, wo sie unter anderem festhielten, dass "ein CRPS l [...] an der linken unteren Extremität [...] ohne den Unfall vom 25. April 2014 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht aufgetreten wäre", die Prädisposition "nicht sensu strictu als unfallfremder Faktor zu interpretieren" sei und der Unfall "kaum wegzudenken" sei, auch wenn ein wesentlicher Teil der aktuell geklagten Beschwerden auf den Unfall vom 13. Juni 2008 zurückzuführen sei. Im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme vom 7. Februar 2020 vertraten die Gutachter demgegenüber auf Seite 33 nunmehr die Auffassung, weder in den neu beigezogenen noch in den bereits bekannten, aber nochmals analysierten Akten fänden sich Anhaltspunkte für die Diagnose eines CRPS für die Zeit vor dem 2. Oktober 2015. Unter Berücksichtigung der im Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme erwähnten Fakten sei die Therapie der Beschwerdeführerin nicht wegen einer gesundheitlichen Störung erfolgt, die in einem überwiegend wahrscheinlichen Kausalzusammenhang mit dem Unfall vom 25. April 2014 stehe.
5.2. Die offensichtlichen Widersprüche zwischen dem Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme hinsichtlich des Zeitpunkts der Entstehung bzw. des Vorliegens des CRPS und dessen Unfallkausalität vermögen die Sachverständigen nicht schlüssig auszuräumen. Daran ändert angesichts des im Gutachten eindeutig postulierten Kausalzusammenhangs zwischen dem CRPS und dem Unfall vom 25. April 2014 letztlich auch nichts, dass sie sich im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme eingehend mit den medizinischen Unterlagen auseinandergesetzt haben. Hinzu kommt, dass die Gutachter trotz der erheblichen "Präzisierung" ihrer noch im Gutachten vertretenen Auffassung zum CRPS am Ende auf Seite 35 ff. ihrer ergänzenden Stellungnahme gleichwohl konstatierten, dass sich an ihren Antworten im Gutachten nichts geändert habe, und in der Folge alle Fragen nach einer etwaigen Änderung ihrer Einschätzung (z.B. der Anamnese, der medizinischen Befunde, der Diagnosen und insbesondere des Kausalzusammenhangs) mit "keine Änderung" beantworteten.
5.3. Soweit die Vorinstanz zum Schluss gelangte, die Beurteilung der Gutachter der Klinik C.________ sei nachvollziehbar und schlüssig, hält dies nach dem Gesagten vor Bundesrecht nicht stand (vorne E. 3.2). Angesichts des von vornherein nicht beweiskräftigen Gutachtens kann auch nicht auf die - sowohl im Gutachten als auch in der ergänzenden Stellungnahme vertretene - Auffassung der Sachverständigen abgestellt werden, wonach der Unfall vom 25. April 2014 nicht zu einer richtunggebenden Verschlechterung des CRPS geführt habe und die Beschwerdeführerin in ihrem Beruf als kaufmännische Angestellte nicht in höherem Mass eingeschränkt sei als bereits vor dem Unfall vom 25. April 2014. Das kantonale Gericht wäre daher gehalten gewesen, weitere Abklärungen zu treffen. Es wird diese noch vornehmen, um anschliessend über die Beschwerde neu zu entscheiden.
6.
Die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu weiterer Abklärung und neuem Entscheid mit noch offenem Ausgang gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten und den Anspruch auf Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen, unabhängig davon, ob sie überhaupt beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder Eventualantrag gestellt wird (BGE 141 V 281 E. 11.1 mit Hinweis). Folglich sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), die der Beschwerdeführerin überdies eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 9. Mai 2023 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. August 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Der Gerichtsschreiber: Walther