8C_34/2024 08.08.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_34/2024
Urteil vom 8. August 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
Gerichtsschreiber Jancar.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Walder,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (berufliche Massnahmen, Invalidenrente, Neuanmeldung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 25. Oktober 2023 (VV.2023.117/E).
Sachverhalt:
A.
A.a. Der 1960 geborene A.________ ist gelernter Kellner und war zuletzt Mitarbeiter im Bereich Fabrikation bei der B.________ AG. Im September und Oktober 2019 musste er sich Operationen des Dünndarms und der Bauchwand unterziehen. Am 20. März 2020 meldete er sich bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau zum Leistungsbezug an. Im April 2020 erfolgten Nachoperationen. Die IV-Stelle zog medizinische und erwerbliche Akten bei. Mit Verfügungen vom 2. Februar 2021 verneinte sie die Ansprüche des Versicherten auf berufliche Massnahmen und Invalidenrente. Seine dagegen geführte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 5. Januar 2022 ab, was vom Bundesgericht mit Urteil 8C_105/2022 vom 12. Juli 2022 bestätigt wurde.
A.b. Am 10. Februar 2022 meldete sich der Versicherte bei der IV-Stelle erneut zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 6. Juni 2023 trat diese hierauf nicht ein, da sich sein Gesundheitszustand nicht anhaltend verschlechtert habe.
B.
Die hiergegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 25. Oktober 2023 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie auf seine (Neu-) Anmeldung vom 10. Februar 2022 eintrete und diese materiell prüfe.
Das Bundesgericht verzichtet auf den Schriftenwechsel.
Erwägungen:
1.
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die vorgebrachten Rügen, sofern eine Rechtsverletzung nicht geradezu offensichtlich ist. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 145 V 57 E. 4.2; 143 V 19 E. 2.3).
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
Rechtsfrage ist, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob die Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1) erfüllt wurden. Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand sowie zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 148 V 397, veröffentlicht in SVR 2023 IV Nr. 16 S. 53).
2.
Strittig ist, ob das vorinstanzlich bestätigte Nichteintreten der IV-Stelle auf die Neuanmeldung des Beschwerdeführers vom 10. Februar 2022 mit der Begründung, er habe eine relevante Verschlechterung seines Gesundheitszustands nicht glaubhaft gemacht, vor Bundesrecht standhält.
2.1. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend die bei der IV-Neuanmeldung der versicherten Person analog anwendbaren Revisionsregeln (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 3 IVV; BGE 141 V 585 E. 5.3; 141 V 9 E. 2.3) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.2.
2.2.1. Hervorzuheben ist, dass die Verwaltung nach Eingang einer Neuanmeldung vorab zu prüfen hat, ob die Vorbringen der gesuchstellenden Person betreffend die anspruchserhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse glaubhaft sind; andernfalls wird auf das Gesuch nicht eingetreten (vgl. Art. 87 Abs. 2 f. IVV; vgl. auch BGE 149 V 177 E. 4.3.3). Mit dem Beweismass des Glaubhaftmachens sind herabgesetzte Anforderungen an den Beweis verbunden; die Tatsachenänderung muss nicht nach dem im Sozialversicherungsrecht sonst üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt sein. Es genügt, dass für das Vorhandensein des geltend gemachten rechtserheblichen Sachumstands wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung werde sich die behauptete Änderung nicht erstellen lassen (BGE 149 V 177 E. 4.7 mit Hinweisen).
2.2.2. Ob eine anspruchserhebliche Änderung nach Art. 87 Abs. 2 f. IVV glaubhaft gemacht ist, stellt eine vom Bundesgericht nur unter dem Blickwinkel von Art. 105 Abs. 2 BGG überprüfbare Tatfrage dar. Um eine Frage rechtlicher Natur handelt es sich hingegen, wenn zu beurteilen ist, wie hohe Anforderungen an das Glaubhaftmachen im Sinne von Art. 87 Abs. 2 f. IVV zu stellen sind (vgl. Urteil 8C_238/2023 vom 22. November 2023 E. 3.2.3).
3.
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, die leistungsverneinenden Verfügungen der IV-Stelle vom 2. Februar 2021 hätten auf den Beurteilungen der behandelnden Ärzte PD Dr. med. C.________, FMH Chirurgie, Leitender Arzt Chirurgie, Stv. Chefarzt, Spital U.________, vom 30. Juni 2020 und Dr. med. D.________, Allgemeine Innere Medizin FMH, vom 17. Juli 2020 beruht. Damals habe der Beschwerdeführer auch über psychische Probleme geklagt, die von Dr. med. D.________ medikamentös behandelt worden seien. Dieser und PD Dr. med. C.________ hätten in einer adaptierten Tätigkeit ab September 2020 eine 100%ige Arbeitsfähigkeit attestiert. Die psychischen Probleme des Beschwerdeführers hätten damals keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit gehabt. Die Verfügungen vom 2. Februar 2021 habe das Bundesgericht mit Urteil 8C_105/2022 vom 12. Juli 2022 letztinstanzlich bestätigt. Massgebend sei einzig, ob der Beschwerdeführer eine erhebliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse seit 2. Februar 2021 glaubhaft gemacht habe. Dies treffe nicht zu, da seine Vorbringen und die von ihm mit der Neuanmeldung vom 10. Februar 2022 eingereichten Berichte der Psychiaterin Dr. med. E.________, vom 31. Mai 2021 und 31. Januar 2022 sowie des Dr. med. D.________ vom 15. Januar 2022 einzig darauf abzielten, die Verfügungen vom 2. Februar 2021 retrospektiv in Frage zu stellen. Da die Berichte nicht für eine Verschlechterung des Gesundheitszustands sprächen, sei das Nichteintreten der IV-Stelle auf die Neuanmeldung rechtens.
4.
4.1. In psychischer Hinsicht beruft sich der Beschwerdeführer auf die Berichte der Dr. med. E.________ vom 31. Mai 2021 und 31. Januar 2022, zu der er sich am 5. März 2021 in Behandlung begab und die u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte. Er macht zusammengefasst geltend, diese Berichte hätten den Verfügungen vom 2. Februar 2021 nicht zu Grunde gelegen, weshalb sie im Rechtssinne "neu" seien. Dr. med. E.________, die u.a. am 7. März 2021 eine Befunderhebung nach den Richtlinien der AMDP (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) vorgenommen habe, habe seinen psychischen Gesundheitsschaden nachvollziehbar aufgezeigt und sei im Bericht vom 31. Mai 2021 von einer 20%igen und in demjenigen vom 31. Januar 2022 von einer 50%igen Arbeitsfähigkeit ab September 2021 ausgegangen. Somit sei die vorinstanzliche Verneinung einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands offensichtlich unrichtig und willkürlich bzw. basiere auf einer falschen Rechtsauffassung. Vielmehr wären die echtzeitlichen Befunde der Dr. med. E.________ von der Vorinstanz zu prüfen gewesen. Wäre nämlich die vorinstanzliche Argumentation korrekt, würde dies regelmässig dazu führen, dass tatsächlich vorhandene Gesundheitsschäden weder bei der Erstanmeldung noch bei einer Neuanmeldung Berücksichtigung fänden.
4.2.
4.2.1. Der Beschwerdeführer erkrankte im September 2019 am Darm bzw. Ileus, weswegen er operiert werden musste. Dr. med. E.________ hielt im Bericht vom 31. Mai 2021 fest, sie schätze die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers im erlernten Beruf als Gastronom auf maximal 20 % ein. Seit Beginn der Erkrankung am Ileus sei sie zu keiner Zeit höher gewesen.
Am 11. Januar 2022 wurde Dr. med. E.________ vom Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ersucht, ihre Annahme der rückwirkenden Arbeitsfähigkeit als Gastronom von 20 % seit der "Erkrankung am Ileus" bis 3. (richtig: 2.) Februar 2021 (Verfügungszeitpunkt der IV-Stelle) zu begründen. Dr. med. E.________ gab im Bericht vom 31. Januar 2022 u.a. an, der Verlauf der Erkrankung zeige, dass der Beschwerdeführer bis Sommer 2021 krankheitsbedingt eine geringe Arbeitsfähigkeit gehabt habe. Am 31. Mai 2021 sei lediglich eine maximale Arbeitsfähigkeit von 20 % möglich gewesen. Diese habe es ihm ermöglicht, von Februar 2021 bis Ende August 2021 stundenweise eine leichte, sitzende Tätigkeit im Krankenhaus auszuüben. Vom 3. Februar 2021 bis heute sei seine Arbeitsfähigkeit behandlungsbedingt stets gewachsen. Eine reguläre Tätigkeit sei erst ab September 2021 im Umfang von 50 % möglich geworden.
4.2.2. Dr. med. F.________, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD) der IV-Stelle, gelangte in der Stellungnahme vom 9. Oktober 2020 zum Schluss, als Gastronom sei der Beschwerdeführer seit 19. September 2019 zu 100 % arbeitsunfähig gewesen. Seinen Einschätzungen wurde vom Bundesgericht im Rahmen der Verfügungen vom 2. Februar 2021 voller Beweiswert beigemessen. Dr. med. E.________ nahm im Bericht vom 31. Mai 2021 somit eine bloss unterschiedliche, und damit unbeachtliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts vor, wenn sie - übrigens sogar von einer höheren Arbeitsfähigkeit ausgehend als Dr. med. F.________ - festhielt, als Gastronom sei der Beschwerdeführer seit der Erkrankung am Ileus, mithin seit September 2019, maximal zu 20 % arbeitsfähig gewesen (vgl. BGE 144 I 103 E. 2.1; 141 V 9 E. 2.3).
4.3. Weiter ergibt sich aus dem Bericht der Dr. med. E.________ vom 31. Januar 2022 nicht glaubhaft, dass bezüglich der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers in einer leidensangepassten Tätigkeit, die gemäss den in Rechtskraft erwachsenen Verfügungen vom 2. Februar 2021 seit 14. September 2020 100 % betrug, eine erhebliche Verschlechterung eingetreten wäre. Vielmehr zeigt sich aus dem Gesamtzusammenhang dieses Berichts, dass Dr. med. E.________ seit der Erkrankung am Ileus im September 2019 und weiterhin seit September 2020 von einer geringen Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers auch in einer leidensangepassten Tätigkeit ausging. Denn aus ihrer Sicht habe er erst ab Februar 2021 stundenweise eine leichte Tätigkeit als Sitzwache im Krankenhaus ausüben können, wobei der im Juni 2021 erfolgte Steigerungsversuch auf 50 % nach drei Wochen gescheitert sei. In diesem Lichte nahm Dr. med. E.________ auch mit Blick auf die Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit seit September 2020 eine bloss unterschiedliche Beurteilung des gleichen Sachverhalts vor, die unerheblich ist.
5.
5.1. In somatischer Hinsicht macht der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, entgegen der vorinstanzlichen Auffassung habe er mit dem Bericht des PD Dr. med. D.________ vom 15. Januar 2022 eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands glaubhaft gemacht.
5.2. PD Dr. med. D.________ hielt im Bericht vom 15. Januar 2022 fest, sein Zeugnis vom 17. Juli 2020 sei eindeutig in prognostisch-prospektiver Absicht erfolgt, um dem Beschwerdeführer eine möglichst gute Vermittelbarkeit gegenüber dem RAV zu ermöglichen. Ein prognostisches Zeugnis könne nie und nimmer über eine übermässig lange Zeit gelten und müsse jeweils den aktuellen Gesundheitsentwicklungen angepasst werden. Der Verlauf der Krankheit habe jedoch gezeigt, dass bereits Mitte August 2020 eine Pensumssteigerung auf über 50 % nicht mehr realistisch gewesen sei. Rückwirkend müsse also festgestellt werden, dass seit September 2020 durchgehend eine Arbeitsfähigkeit von 50 % für leichte Arbeiten ohne Notwendigkeit des Hebens schwerer Gewichte bestanden habe.
Der Vorinstanz ist beizupflichten, dass PD Dr. med. D.________ mit dem Bericht vom 15. Januar 2022 darauf abzielte, seine den Verfügungen vom 2. Februar 2021 zu Grunde liegende Beurteilung vom 17. Juli 2020, wonach der Beschwerdeführer seit 14. September 2020 zu 100 % arbeitsfähig war, retrospektiv in Frage zu stellen. Damit liegt auch somatischerseits eine unterschiedliche Beurteilung des gleichen Sachverhalts vor, die unbeachtlich ist.
6.
Zusammenfassend ist nicht erkennbar, dass die Vorinstanz überhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer erheblichen Veränderung gestellt hätte. Vielmehr steht ihr Urteil, wonach der Beschwerdeführer mit der Neuanmeldung vom 10. Februar 2022 eine anspruchserhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands nicht glaubhaft machte und die IV-Stelle auf sein Begehren somit zu Recht nicht eintrat, mit dem Bundesrecht im Einklang. Unter diesen Umständen waren IV-Stelle und Vorinstanz auch nicht verpflichtet, weitere ärztliche Berichte einzuholen (vgl. BGE 130 V 64 E. 5.2.5; Urteil 9C_7/2019 vom 5. April 2019 E. 3.4).
7.
Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 8. August 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Der Gerichtsschreiber: Jancar