6B_1203/2023 16.08.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B_1203/2023
Urteil vom 16. August 2024
I. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
Bundesrichter Denys,
Bundesrichter Muschietti,
Gerichtsschreiber Roux-Serret.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Daniel Küng,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh., Unteres Ziel 20, 9050 Appenzell,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Landesverweisung,
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh., Abteilung Zivil- und Strafgericht, vom 20. Juni 2023 (K 3-2022).
Sachverhalt:
A.
Das Bezirksgericht Appenzell I.Rh sprach den portugiesischen Staatsangehörigen A.________, Jahrgang 1978, mit Urteil vom 8. November 2022 nebst der Drohung, der mehrfachen Tätlichkeiten, der mehrfachen Pornografie, sowie der mehrfachen sexuellen Belästigung der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, begangen zum Nachteil seiner Stieftöchter B.________ sowie C.________, schuldig. Es bestrafte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten unter Ansetzung einer Probezeit von 3 Jahren sowie mit einer Busse von Fr. 500.--. Weiter ordnete es eine Landesverweisung für die Dauer von 7 Jahren an. Dagegen erhob A.________ Berufung.
B.
Das Kantonsgericht Appenzell I.Rh wies die Berufung mit Urteil vom 20. Juni 2023 ab und bestätigte die erstinstanzlichen Schuldsprüche sowie die Sanktion und die Anordnung der Landesverweisung (Dispositiv Ziffer 5).
C.
A.________ gelangt mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung von Ziffer 5 des vorinstanzlichen Urteils und das Absehen von der Anordnung einer Landesverweisung.
Weiter stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer anerkennt das Vorliegen einer Katalogtat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB. Er moniert aber, die angeordnete Landesverweisung sei unverhältnismässig und rügt, Art. 5 des Freizügigkeitsabkommens (FZA) stehe deren Anordnung entgegen.
1.1.
1.1.1. Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur "ausnahmsweise" unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen (Art. 66a Abs. 2 Satz 1 StGB; sog. Härtefallklausel). Das Bundesgericht hat wiederholt dargelegt, welche Kriterien bei der Prüfung des persönlichen Härtefalls und der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind (BGE 146 IV 105 E. 3.4; 144 IV 332 E. 3.3; je mit Hinweisen). Ebenso hat es sich bei der Beurteilung der Landesverweisung bereits mehrfach zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK) und der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR geäussert (BGE 146 IV 105 E. 4.2; 147 I 268 E. 1.2.3; je mit Hinweisen). Schliesslich hat das Bundesgericht mehrfach die Voraussetzungen für eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem aufgezeigt (BGE 147 IV 340 E. 4; 146 IV 172 E. 3.2; je mit Hinweisen). Darauf kann verwiesen werden.
1.1.2. Ob eine Landesverweisung anzuordnen ist, bestimmt sich zunächst nach dem Schweizer Recht. Ist nach dem massgebenden Recht eine Landesverweisung anzuordnen, stellt sich gegebenenfalls die weitere Frage, ob ein völkerrechtlicher Vertrag wie das Freizügigkeitsabkommen einen Hinderungsgrund für die Landesverweisung bildet (Urteile 6B_449/2023 vom 21. Februar 2024 E. 1.3.7; 6B_854/2023 vom 20. November 2023 E. 3.1.6; 6B_860/2023 vom 12. September 2023 E. 1.3.4; je mit Hinweisen).
Nach Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA dürfen die im Abkommen eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden. Die Landesverweisung nach Art. 66a ff. StGB ist als Institut des Strafrechts und nach der Intention des Verfassungs- und des Gesetzgebers primär als sichernde strafrechtliche Massnahme zu verstehen (vgl. Art. 121 Abs. 2 und Abs. 5 BV; Urteile 6B_449/2023 vom 21. Februar 2024 E. 1.3.7; 6B_854/2023 vom 20. November 2023 E. 3.1.6; je mit Hinweisen).
Ob die öffentliche Ordnung und Sicherheit (weiterhin) gefährdet ist, folgt aus einer Prognose des künftigen Wohlverhaltens. Es ist nach Art und Ausmass der möglichen Rechtsgüterverletzung zu differenzieren: Je schwerer die Gefährdung, desto niedriger die Anforderungen an die in Kauf zu nehmende Rückfallgefahr. Ein geringes, aber tatsächlich vorhandenes Rückfallrisiko kann für eine aufenthaltsbeendende Massnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA genügen, sofern dieses Risiko eine schwere Verletzung hoher Rechtsgüter wie beispielsweise die körperliche Unversehrtheit beschlägt (BGE 145 IV 364 E. 3.5.2; Urteile 6B_449/2023 vom 21. Februar 2024 E. 1.3.7; 6B_854/2023 vom 20. November 2023 E. 3.1.6; je mit Hinweisen).
1.2. Soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Anordnung der Landesverweisung wendet, vermag er mit seinen Argumenten nicht durchzudringen.
1.2.1. Der Vorinstanz zufolge sei der Beschwerdeführer weder in der Schweiz geboren oder aufgewachsen, noch habe er hier eine sehr prägende Zeit seines Lebens verbracht. Er wohne in U.________ alleine. Er habe die Beziehungen zu seinem Heimatland nicht vollständig aufgegeben und reise regelmässig nach Portugal. Die Beziehung zu seiner im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils 10-Jährigen Tochter, die ebenfalls über die portugiesische Staatsangehörigkeit verfüge, könne auch besuchsweise oder über digitale Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden. Der Beschwerdeführer könne sich auch nach ca. 20 Jahren in der Schweiz auf Deutsch nicht problemlos und differenziert verständigen. Dass er neben seiner Tochter über weitere intensive private Beziehungen beruflicher oder gesellschaftlicher Art verfüge, bringe er nicht vor. So habe er anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung verneint, in einem Verein oder ähnlichem aktiv zu sein oder Hobbies auszuüben. Eine Ausreise aus der Schweiz sei ihm zumutbar. Auch sein gesundheitlicher Zustand begründe keinen schweren persönlichen Härtefall.
Hinzu komme, dass am 3. November 2022 auf ein Leistungsbegehren des Beschwerdeführers auf IV-Leistung nicht eingetreten worden und eine Neuanmeldung bei der IV noch pendent sei. Seine gesundheitliche Situation, von der er angegeben habe, dass sie kompliziert sei, wobei er alle zwei Wochen zu einem Dr. D.________ in Behandlung gehe, stehe einer Landesverweisung damit nicht entgegen. Auch angesichts des geringen Arbeitspensums des Beschwerdeführers von wenigen Stunden pro Woche, ohne dass dies gesundheitlich begründet wäre, sei von einer mangelnden beruflichen Integration auszugehen. Weder lebe er in einer festen Beziehung, noch habe er in der Schweiz ausser seiner Tochter weitere Verwandte. Seine Mutter und seine beiden Schwestern lebten in Portugal. Weiter sehe er seine Tochter, die bei ihrer Mutter lebe, nur alle 14 Tage im Rahmen eines begleiteten Besuchsrechts und unterstütze sie nicht finanziell. Dies lasse nicht auf eine sehr enge Beziehung schliessen. Es sei ihm aufgrund deren Alters möglich und zumutbar, den Kontakt via moderne Kommunikationsmittel aufrechtzuerhalten. Zudem könne er seine Tochter in Portugal sehen, sei sie doch nach seinen Angaben auch schon mit ihrer Mutter dorthin in die Ferien gefahren. Weiter sei nicht erkennbar, dass die Resozialisierungschancen für den Beschwerdeführer in seinem Heimatland wesentlich ungünstiger seien als in der Schweiz. Ein schwerer persönlicher Härtefall sei zu verneinen.
Das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Sexualdelikten sei im Übrigen als äusserst stark zu gewichten. Unter Berücksichtigung der Natur der Straftat, des nicht leichten Verschuldens des Beschwerdeführers, seiner nicht hohen Interessen an einem Verbleib in der Schweiz und des grossen öffentlichen Interesses an der Verhinderung sexueller Übergriffe gegenüber Minderjährigen, erweise sich die Landesverweisung von 7 Jahren als angemessen.
1.2.2. Sofern die spärlichen und unsubstanziierten Vorbringen des Beschwerdeführers mangels Bezugnahme auf das angefochtene Urteil den Anforderungen an eine Beschwerde vor Bundesgericht überhaupt zu genügen vermögen (vgl. Art. 42 BGG), zeigt er keinen schweren persönlichen Härtefall auf. Vielmehr begnügt er sich im Wesentlichen mit einem knappen Verweis auf seinen 22-jährigen Aufenthalt, ein hängiges Beschwerdeverfahren gegen einen Nichteintretensentscheid betreffend sein IV-Leistungsgesuch und den Umstand, dass die modernen Kommunikationsmittel regelmässige persönliche Kontakte zu seiner Tochter seiner Ansicht nach nicht ersetzten.
Mit all diesen Punkten setzt sich die Vorinstanz auseinander und begründet unter Würdigung sämtlicher massgebenden Kriterien, zutreffend, weshalb vorliegend dennoch kein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt resp. die Landesverweisung trotzdem anzuordnen ist. Eine Verletzung von Bundes- oder Völkerrecht ist dabei nicht ersichtlich.
1.3. Der Beschwerdeführer rügt weiter, Art. 5 FZA stehe der Anordnung einer Landesverweisung entgegen.
1.3.1. Gemäss den unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz berührte der Beschwerdeführer seine am Boden liegenden, damals neun- und fünfzehnjährigen Stieftöchter mehrmals mit seinem Fuss zwischen ihren Beinen an deren Scheiden über den Kleidern, zog beiden mehrmals die Hosen herunter, sodass sie nur noch in Unterhosen bekleidet vor ihm standen und drückte ihnen mehrmals über den Kleidern den Finger zwischen die Pobacken. Zudem drückte er der einen Stieftochter mehrmals über den Kleidern mit seinen Fingern die Brustwarzen zusammen, schlug ihr mehrmals mit der Hand auf das Gesäss und fasste sie an den Beinen an, während sie im Bett lag.
Die Vorinstanz erwägt im Rahmen der Strafzumessung, die Vorfälle des gesamten Tatzeitraums seien je einzeln geeignet, die Entfaltung der Geschädigten nachhaltig zu stören, weshalb im Sinne einer Gesamtschau von einer gravierenden Beeinträchtigung ihrer psychisch-emotionalen Entwicklung ausgegangen werden müsse. Auf der anderen Seite seien im Spektrum möglicher sexueller Handlungen mit Kindern, namentlich Hinsichtlich Dauer und Intensität, auch schwerere Verhaltensweisen denkbar, was die zu beurteilenden Taten jedoch nicht verharmlosen solle. Das objektive Tatverschulden erscheine hinsichtlich beider Geschädigten nicht mehr leicht. Der Beschwerdeführer habe absichtlich aus egoistischen Motiven und ohne Rücksicht auf die gravierende Beeinträchtigung der Entwicklung seiner minderjährigen Stieftöchter gehandelt. Er habe durch sein Verhalten ganz bewusst und erheblich in deren psychisch-emotionale und sexuelle Entwicklung eingegriffen. Trotz des Widerwillens, den beide Geschädigten dem Beschwerdeführer jeweils mitgeteilt hätten, habe er seine Übergriffe weitergeführt. Im Ergebnis erscheine sein Verschulden nicht mehr leicht. Es sei von mittelschwerem Tatverschulden auszugehen.
Betreffend die Vereinbarkeit der Landesverweisung mit Art. 5 FZA wird im angefochtenen Urteil ausgeführt, der Beschwerdeführer werde wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit seinen beiden Stiefkindern über die Dauer von fast einem Jahr schuldig gesprochen. Er lasse damit ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentliche Ordnung darstelle. Es handle sich um schwerwiegende Delikte, für die er mit 12 Monaten Freiheitsstrafe bestraft werde. Da der Beschwerdeführer in keiner festen Beziehung lebe, bestehe die Gefahr, dass er in nächsten Beziehungen wiederum mit Kindern in sexuellen Kontakt kommen könnte, die emotional und sozial von ihm abhängig seien, habe er doch auch keinerlei Einsicht und Reue in seine Taten gezeigt. Es bleibe somit ein gegenwärtiges Rückfallrisiko im Sinne des FZA bestehen, das ein hohes Rechtsgut beschlage. Dies genüge, um die Landesverweisung zu legitimieren.
1.3.2. Der Vorinstanz ist beizupflichten. Sexuelle Verfehlungen gegenüber Kindern gehören prinzipiell zu den gravierenden Straftaten (vgl. Urteile 7B_878/2023 vom 29. Februar 2024 E. 3.2.2; 6B_1076/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 2.5.; je mit Hinweis). Bei der Entwicklung Minderjähriger (vgl. zum Rechtsgut BGE 146 IV 153 E. 3.5.2) handelt es sich mithin fraglos um ein hohes Rechtsgut. Angesichts obiger Erwägungen betreffend sein Vorgehen und das Tatverschulden vermag der Beschwerdeführer die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung auch mit Verweis auf die seines Erachtens tiefe Einsatzstrafe von 10 Monaten nicht massgeblich zu relativieren. An die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit sind bei dieser Ausgangslage keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.
Der Beschwerdeführer wurde vorinstanzlich wegen diverser Delikte schuldig gesprochen. Sein Vorbringen, wonach seine (nicht einschlägige) Vorstrafe als Beleg für seine Achtung der Schweizerischen Rechtsordnung diene, überzeugt vor diesem Hintergrund nicht. Zynisch scheint es zudem, wenn er angesichts des vorinstanzlichen Schuldspruchs geltend macht, dem angefochtenen Urteil lasse sich nichts entnehmen, was auf Interesse an pubertären oder präpubertären Mädchen schliessen lasse. Unabhängig von der Frage, ob er im Deliktszeitraum oder aktuell in einer Beziehung lebt (e), zeigt er in Bezug auf die an den Geschädigten vorgenommenen sexuellen Handlungen keinerlei Einsicht und bestreitet seine Taten bis heute. Eine deliktsspezifische therapeutische Aufarbeitung fand ebenfalls nicht statt. Vor diesem Hintergrund erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich der Beschwerdeführer bei erneutem Kontakt zu Minderjährigen wieder zu vergleichbarem Verhalten hinreissen lassen könnte. Sein unsubstanziierter Verweis auf seinen (durch eine angebliche therapeutische Behandlung) nunmehr gefestigten Charakter und die blutleere Beteuerung, wonach das vorliegende Strafverfahren einen nachhaltigen Eindruck auf ihn hinterlasse, vermögen die betreffenden Bedenken nicht zu zerstreuen. Es ist damit von einer Gefahr der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auszugehen.
Die Landesverweisung erweist sich mithin vorliegend auch unter Beachtung des FZA als verhältnismässig.
1.3.3. Der Beschwerdeführer äussert sich nicht zur Dauer der angeordneten Landesverweisung, womit darauf nicht weiter einzugehen ist.
2.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist infolge Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner angespannten finanziellen Lage wird bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung getragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Appenzell I.Rh., Abteilung Zivil- und Strafgericht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 16. August 2024
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
Der Gerichtsschreiber: Roux-Serret