9C_224/2024 22.10.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_224/2024
Urteil vom 22. Oktober 2024
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Bögli.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Martina Frischkopf,
Beschwerdeführer,
gegen
Ausgleichskasse Luzern,
Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Covid-19),
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 15. März 2024 (5V 23 251).
Sachverhalt:
A.
A.________ ist Gesellschafter und Geschäftsführer der B.________ GmbH in Liq. Er bezog unter anderem vom 1. Oktober 2020 bis 31. Oktober 2021 Covid-19-Erwerbsersatz von der Ausgleichskasse Luzern. Mit Rückforderungsverfügung vom 5. Januar 2023 forderte die Ausgleichskasse die zwischen dem 1. Oktober 2020 und dem 31. Oktober 2021 ausgerichtete Covid-19-Erwerbsersatzentschädigung von Fr. 67'411.45 zurück. A.________ stellte am 11. Januar 2023 ein Erlassgesuch. Mit Verfügung vom 31. März 2023 kam die Ausgleichskasse auf ihre Verfügung vom 5. Januar 2023 zurück und reduzierte die Rückforderung auf Fr. 45'451.25. Daraufhin hielt A.________ mit E-Mail vom 5. April 2023 an seinem Erlassgesuch fest und verzichtete am 17. April 2023 auf ein Rechtsmittel gegen die Verfügung vom 31. März 2023. Am 21. April 2023 verfügte die Ausgleichskasse die Abweisung des Erlassgesuchs und die Abschreibung der Rückforderung. Die dagegen erhobene Einsprache wurde mit Einspracheentscheid vom 11. Juli 2023 abgewiesen.
B.
Das Kantonsgericht Luzern trat mit Urteil vom 15. März 2024 nicht auf die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ein.
C.
A.________ lässt dagegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen lässt sich nicht vernehmen.
Erwägungen:
1.
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; zur Rüge- und Begründungspflicht der Parteien: Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 326 E. 1 mit Hinweisen).
2.
2.1. Die Vorinstanz ist zum Schluss gelangt, auf die Beschwerde könne mangels hinreichenden schutzwürdigen Interesses des Beschwerdeführers an einem Erlass der Rückforderung nicht eingetreten werden. Dies wird vor dem Bundesgericht bestritten. Zu prüfen ist daher, wie es sich mit der Beschwerdebefugnis (Legitimation) des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem Kantonsgericht verhält.
2.2. Wer zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt ist, muss sich am Verfahren vor allen kantonalen Vorinstanzen als Partei beteiligen können (Einheit des Verfahrens gemäss Art. 111 Abs. 1 BGG; BGE 146 I 62 E. 5.4.5; 145 V 343 E. 2.3.2). Daraus ergibt sich, dass die Legitimation im kantonalen Verfahren nicht enger gefasst sein darf als die Beschwerdebefugnis vor Bundesgericht. Folglich ist die Legitimation der Beschwerdeführenden unter dem Gesichtspunkt von Art. 89 BGG zu beurteilen, was das Bundesgericht - da es um die Anwendung von Bundesrecht geht - frei prüft (Urteil 9C_106/2024 vom 14. März 2024 E. 3.1 mit Hinweisen).
2.3. Nach Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat, durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse rechtlicher oder tatsächlicher Natur an dessen Aufhebung oder Änderung hat. Das schutzwürdige Interesse muss nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung, sondern auch noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung aktueller und praktischer Natur sein. Fällt es im Verlaufe des Verfahrens dahin, wird die Sache als erledigt erklärt; fehlte es schon bei Beschwerdeeinreichung, ist auf die Eingabe nicht einzutreten (Art. 71 BGG in Verbindung mit Art. 72 BZP; BGE 145 III 422 E. 5.2; 142 I 135 E. 1.3.1; 139 I 206 E. 1.1).
2.4. Von einem hinreichenden schutzwürdigen Interesse darf allgemein ausgegangen werden, falls durch die Gutheissung des Rechtsmittels ein ansonsten drohender praktischer materieller oder ideeller Nachteil abgewendet werden kann (BGE 147 I 478 E. 2.2; 145 II 259 E. 2.3; 141 II 50 E. 2.1). Zu verlangen ist daher, dass die Situation der beschwerdeführenden Person durch den Ausgang des Verfahrens überhaupt in rechtserheblicher Weise verbessert werden kann (BGE 139 II 499 E. 2.2). Wenn selbst die Gutheissung des Rechtsmittels zu keinem anderen Ergebnis führen würde, kann kein rechtserhebliches Rechtsschutzinteresse vorliegen. Gleiches gilt, falls Rechtsfragen aufgeworfen werden, die im betreffenden Fall von keinerlei Bedeutung sind (Urteile 2C_1000/2021 vom 29. Dezember 2022 E. 2.2; 2C_392/2020 vom 1. Juli 2020 E. 2.3.2; 2C_514/2017 vom 13. Dezember 2017 E. 2.2.2), oder wenn der beschwerdeführenden Person lediglich die Begründung einer Verfügung bzw. eines Entscheids missfällt. Der formellen und materiellen Rechtskraft einer Verfügung zugänglich ist zwar die Entscheidformel (das Dispositiv), nicht aber die Sachverhaltsfeststellungen oder die Erwägungen zur Rechtslage (die Motive). Aus diesem Grund kann nur das Dispositiv Bindungswirkung entfalten, sodass auch nur dieses anfechtbar ist (BGE 140 I 114 E. 2.4.2; siehe auch BGE 147 II 227 E. 5.4.8.2; 144 V 418 E. 4.2).
3.
3.1. Das kantonale Gericht führt im angefochtenen Urteil aus, die Beschwerdegegnerin habe mit Verfügung vom 21. April 2023 zwar das Erlassgesuch des Beschwerdeführers abgewiesen, jedoch gleichzeitig auf das Inkasso verzichtet, den Ausstand als uneinbringlich abgeschrieben und dies auch so im Dispositiv festgehalten. Diese Abschreibung komme einem (verfügungsweise angeordneten) Forderungsverzicht gleich, weshalb eine allfällige Gutheissung der Beschwerde dem Beschwerdeführer keinen praktischen Nutzen bringen würde. Es fehle ihm demnach am schutzwürdigen Interesse an der Beurteilung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
3.2. Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die Abschreibung einer Forderung entspreche nicht einem definitiven Verzicht, weshalb sie nicht mit einem Erlass gleichgesetzt werden könne. Ohne Erlass bleibe jedoch das Passivum in seinem Vermögen bestehen; die Forderung könne (und müsse) zu einem späteren Zeitpunkt dennoch eingefordert werden, wenn er zu neuem Vermögen komme. Dass die Forderung immer noch bestehe, zeige sich auch darin, dass sie nach dem 11. Juli 2023 teilweise mit einem Guthaben verrechnet worden sei. Soweit das kantonale Gericht davon ausgehe, die Schuld sei durch die Abschreibung definitiv untergegangen und er habe daher keinen praktischen Nutzen an der Beurteilung der Beschwerde, verkenne es die Rechtslage. Durch die Nichtbeurteilung seiner Beschwerde begehe die Vorinstanz eine Rechtsverweigerung und verletze damit die Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV, das Willkürverbot nach Art. 9 BV sowie den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV. Zudem stelle sie den Sachverhalt offensichtlich unrichtig fest. Der Nichteintretensentscheid sei vollkommen überraschend gewesen, da die Beschwerdegegnerin das schutzwürdige Interesse zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt habe.
4.
4.1. Eine Behörde verfällt in formelle Rechtsverweigerung und verletzt Art. 29 Abs. 1 (und 2) BV, wenn sie namentlich auf eine ihr frist- und formgerecht unterbreitete Sache nicht eintritt, obwohl sie darüber befinden müsste (BGE 144 II 184 E. 3.1; 135 I 6 E. 2.1; Urteil 6B_1291/2022 vom 22. Mai 2023 E. 1.5.6 mit Hinweis), oder ein Rechtsbegehren nicht prüft, obwohl dazu eine Verpflichtung besteht (Urteil 6B_1291/2022 vom 22. Mai 2023 E. 1.5.6 mit Hinweis). Das Vorliegen einer formellen Rechtsverweigerung prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 144 II 184 E. 3.1; 135 I 6 E. 2.1; Urteil 6B_1408/2022 vom 17. Februar 2023 E. 4.5.2).
4.2. Das Gericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen. Der Beschwerdeführer kann daher nichts daraus ableiten, dass die Beschwerdegegnerin im vorinstanzlichen Verfahren seine Beschwerdelegitimation nicht in Frage gestellt und die Vorinstanz diese "überraschend" verneint hat.
4.3. Es ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin die Rückforderung mit Verfügung vom 21. April 2023, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 11. Juli 2023, nicht erlassen, sondern lediglich als uneinbringlich abgeschrieben hat. Der Argumentation des Kantonsgerichts, die Abschreibung einer Forderung sei einem Erlass gleichzustellen und führe zu einem definitiven Untergang der Forderung, kann nicht gefolgt werden. Der Erlass ist eine ? (besondere) Form der Tilgung der Rückerstattungsschuld (BGE 116 V 290 E. 5b). Er ist endgültig, auch wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der betroffenen Person nachträglich ändern (JOHANNA DORMANN, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 70 zu Art. 25 ATSG). Mit der Abschreibung wegen Uneinbringlichkeit geht die Rückerstattungsschuld hingegen nicht unter. Vielmehr kann sie rechtsprechungsgemäss - vorbehaltlich der Verwirkung - zu einem späteren Zeitpunkt erneut geltend gemacht werden, sollte der Schuldner zu neuem Vermögen kommen (BGE 113 V 280 E. 4b; Urteil 8C_2/2024 vom 20. Juni 2024 E. 5.2 mit Hinweisen; vgl. auch Rz. 10191 Wegleitung über die Renten des Bundesamts für Sozialversicherungen vom 1. Januar 2014 [RWL], Stand 2023; i.V.m. Rz 7017 Wegleitung zur Erwerbsersatzordnung des Bundesamts für Sozialversicherungen vom 1. Juli 2005 [WEO], Stand 2023; Art. 79 bis AHVV; Art. 85 Abs. 3 IVV). Die Vorinstanz hat damit den Sachverhalt unrichtig festgestellt, indem sie die Forderung als getilgt erachtete.
4.4. Da die Forderung entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts durch die Abschreibung nicht untergegangen ist, ist der Beschwerdeführer immer noch verpflichtet, die zu Unrecht bezogenen Leistungen zurückzuerstatten, auch wenn das Inkasso (zurzeit) ausgesetzt wurde. Die ausstehende Forderung verringert als Passivum sein Vermögen. Somit hat er ein aktuelles und praktisches Interesse an der Beurteilung der Frage, ob ihm die Rückerstattung gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG erlassen werden kann, da die Forderung dadurch als getilgt untergehen würde (vgl. BGE 113 V 280 E. 4b). Die Vorinstanz ist demnach zu Unrecht nicht auf die Beschwerde eingetreten und hat damit eine Rechtsverweigerung begangen.
4.5. Nach Gesagtem ist die Beschwerde gutzuheissen, das kantonale Urteil aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
5.
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Der eingereichten Kostennote vom 26. September 2024 in der Höhe von Fr. 2'755.75 (inkl. Spesen und MwSt.) kann entsprochen werden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 15. März 2024 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'755.75 zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 22. Oktober 2024
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Bögli