8C_166/2024 28.10.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_166/2024
Urteil vom 28. Oktober 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiber Jancar.
Verfahrensbeteiligte
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Rechtsabteilung, Fluhmattstrasse 1, 6002 Luzern,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Lerch,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Unfallversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 8. Februar 2024 (VSBES.2023.224).
Sachverhalt:
A.
Der 1970 geborene A.________ arbeitete seit 1. Oktober 1997 als Angestellter bei der B.________ AG und war dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch unfallversichert. Am 22. Oktober 2020 stürzte er während der Arbeit und zog sich eine Schulterluxation rechts zu. Die Suva kam für die Heilbehandlung und das Taggeld auf. Mit Verfügung vom 3. April 2023 sprach sie dem Versicherten eine Integritätsentschädigung von 10 % und ab 1. Mai 2023 eine Invalidenrente von 15 % zu. Seine Einsprache hiess die Suva mit Entscheid vom 23. August 2023 insoweit teilweise gut, als sie ihm ab 1. Mai 2023 eine Rente von 19 % zusprach.
B.
In teilweiser Gutheissung der hiergegen von A.________ erhobenen Beschwerde sprach ihm das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn ab 1. Mai 2023 eine Invalidenrente von 23 % zu (Urteil vom 8. Februar 2024).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva die Aufhebung des kantonalen Urteils.
A.________ schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2, Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
2.1. Streitig ist, ob es vor Bundesrecht standhält, dass die Vorinstanz dem Beschwerdeführer ab 1. Mai 2023 anstatt einer Invalidenrente von 19 % eine solche von 23 % zusprach.
2.2. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend den Rentenanspruch (Art. 18 Abs. 1 UVG), die Bemessung der Invalidität nach dem Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG), den massgebenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 146 V 271 E. 4.4) und den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 139 V 225 E. 5.2; 135 V 465 E. 4.4, 125 V 351 E. 3b/ee) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
3.
Die vorinstanzliche Feststellung, dass es dem Beschwerdegegner aus medizinischer Sicht unter Berücksichtigung der unfallkausalen somatischen Einschränkungen zumutbar ist, eine angepasste Tätigkeit vollzeitig auszuüben, ist allseits unbestritten. Gleiches gilt bezüglich der vorinstanzlichen Ermittlung des vom Beschwerdegegner im Gesundheitsfall hypothetisch erzielbaren sog. Valideneinkommens von Fr. 78'560.95.
4.
4.1. Strittig ist einzig die Bemessung des vom Beschwerdegegner trotz Gesundheitsschadens hypothetisch erzielbaren sog. Invalideneinkommens. Die Vorinstanz setzte dieses ausgehend von der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) auf jährlich Fr. 66'800.11 fest (Tabelle TA1_tirage_skill Level, Medianlohn für Männer im Total Kompetenzniveau 1 [einfache Tätigkeiten körperlicher oder handwerklicher Art]). In diesem Rahmen ist einzig umstritten, ob es vor Bundesrecht standhält, dass die Vorinstanz von diesem Einkommen entgegen der Suva nicht einen Abzug von 5 %, sondern einen solchen von 10 % vornahm.
4.2.
4.2.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Lohndaten wie namentlich der LSE ermittelt, ist der so erhobene Ausgangswert allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können und die versicherte Person je nach Ausprägung deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann. Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen. Die Rechtsprechung gewährt insbesondere dann einen Abzug vom Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Allfällige bereits in der Beurteilung der medizinischen Arbeitsfähigkeit enthaltene gesundheitliche Einschränkungen dürfen nicht zusätzlich in die Bemessung des leidensbedingten Abzugs einfliessen und so zu einer doppelten Anrechnung desselben Gesichtspunkts führen (BGE 148 V 174 E. 6.3).
4.2.2. Die Kognition des kantonalen Versicherungsgerichts (vgl. Art. 57 und 61 lit. c ATSG) erstreckt sich auch auf die Beurteilung der Angemessenheit der Verwaltungsverfügung, wobei es sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen darf (BGE 137 V 71 E. 5.2; SVR 2023 IV Nr. 48 S. 163, 8C_304/2022 E. 1.4 mit Hinweis).
4.2.3. Die Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Abzugs ist eine Ermessensfrage und daher letztinstanzlich nur bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung korrigierbar (BGE 148 V 174 E. 6.5).
5.
5.1. Im strittigen Einspracheentscheid begründete die Suva den 5%igen Tabellenlohnabzug damit, dass der Beweglichkeitsumfang der rechten Schulter des Beschwerdegegners eingeschränkt sei. Weitere Abzugsgründe verneinte sie.
5.2. Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, aus der Tabelle T12_b der LSE 2020 ergebe sich, dass Männer der Kategorie "ohne Kaderfunktion" und mit Aufenthaltsbewilligung C (Median) - wozu der Beschwerdegegner gemäss Aktenlage zähle - im Vergleich zum Total von Schweizern und Ausländern der gleichen Kategorie einen um 4 % geringeren Lohn erzielt hätten. Dieser Umstand sei im Rahmen des Abzugs zu berücksichtigen (SVR 2023 IV Nr. 18 S. 63, 8C_332/2022 E. 5.2.2.2; Urteil 9C_360/2022 vom 4. November 2022 E. 4.3.2). Das Zumutbarkeitsprofil des Beschwerdegegners sei aufgrund der Schulterproblematik aber zusätzlich eingeschränkt, weshalb sich diesbezüglich ein 5%iger Abzug rechtfertige. Somit sei der Abzug auf gesamthaft 10 % zu beziffern.
6.
6.1. Die Suva macht geltend, die Vorinstanz habe übersehen, dass im Urteil SVR 2023 IV Nr. 18 S. 63 der Minderverdienst bei Ausländern nicht anhand der LSE-Tabelle T12_b (privater und öffentlicher Sektor), sondern in Anwendung der LSE-Tabelle TA12 (privater Sektor) bemessen worden sei. Da vorliegend für die Bestimmung des Invalideneinkommens die LSE-Tabelle TA1 mit den Löhnen nur des privaten Sektors verwendet worden sei (vgl. E. 4.1 hiervor), sei es sachgerecht, die Tabelle TA12 zu verwenden. Gemäss dieser Tabelle des Jahres 2020 resultiere aus dem Vergleich des Einkommens von Männern mit Niederlassungsbewilligung C ohne Kaderfunktion (Fr. 5'899.-) mit dem Total des Medianlohnes für Männer ohne Kaderfunktion (Fr. 6'032.-) eine Unterdurchschnittlichkeit von bloss 2.2 %. Da laut der Vorinstanz aufgrund der Schulterproblematik ein Abzug von 5 % gerechtfertigt sei und keine weiteren Abzugsgründe vorlägen, habe sie den totalen Abzug von 10 % zu Unrecht ohne Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen zusätzlich mit der von ihr (falsch) errechneten statistischen Unterdurchschnittlichkeit von 4 % festgelegt. Zudem habe die Vorinstanz verkannt, dass der leidensbedingte Abzug nicht zu berechnen, sondern ermessensweise (und gesamthaft) festzulegen sei. Da die statistische Unterdurchschnittlichkeit bloss 2.2 % betrage, der 1970 geborene Beschwerdegegner als italienischer Staatsbürger bereits seit 1996 in der Schweiz lebe und eine Schweizer Landessprache (italienisch) beherrsche, sei das Merkmal des Minderverdienstes von Ausländern in der Gesamtwürdigung kaum ausschlaggebend. Zudem habe die Vorinstanz ausser Acht gelassen, dass er seine Arbeit bereits im Jahr 1997 angetreten habe und somit über eine langjährige Vertrautheit mit einem Arbeitsplatz in der Schweiz verfüge. Folglich stelle die Aufenthaltsbewilligung C keinen Abzugsgrund dar. Da der vorinstanzlich bestätigte leidensbedingte Abzug von 5 % mit Blick auf das medizinisch definierte Anforderungsprofil für eine angepasste Tätigkeit grosszügig sei, sei die Abzugserhöhung auf 10 % ein rechtsfehlerhaften Eingriff in das Ermessen der Suva.
6.2.
6.2.1. Mit ihrer Argumentation, der Beschwerdegegner lebe seit dem 26. Altersjahr in der Schweiz, arbeite hier seit dem 27. Altersjahr und beherrsche die italienische Sprache, zeigt die Suva nicht auf, dass die festgestellte statistische Differenz für ihn keine Rolle spielt. Das Bundesgericht gewährte nämlich im Urteil 8C_332/2022 vom 19. Oktober 2022, veröffentlicht in SVR 2023 IV Nr. 18 S. 63, ebenfalls einen Abzug wegen der Ausländereingenschaft mit Niederlassungsbewilligung C einem Versicherten, der bis zum Eintritt des Gesundheitsschadens während rund 33 Jahren im gleichen Unternehmen gearbeitet hatte (Sachverhalt lit. A und E. 5.2.2.2). Vorliegend war der Beschwerdegegner bis zum invalidisierenden Unfall vom 22. Oktober 2020 rund 23 Jahre lang nur in der B.________ AG im Kanton Solothurn tätig. Es ist in keiner Weise erstellt und auch nicht ersichtlich, dass diese Funktion seine beruflichen Aussichten in einem anderen Arbeitsbereich gefördert hätte, oder dass seine Italienischkenntnisse in diesem Zusammenhang nützlich wären.
6.2.2. Die Vorinstanz ging zur Bestimmung des Invalideneinkommens zu Recht von der LSE-Tabelle TA1aus, welche einzig die Löhne des privaten Sektors betrifft. Demgegenüber beschlägt die von ihr Beigezogene LSE-Tabelle T12_b, mit der sie den Minderverdienst des Beschwerdegegners als Ausländer prüfte, den privaten und öffentlichen Sektor (Bund, Kantone, Gemeinden, Körperschaften) zusammen. Der Suva ist beizupflichten, dass es - damit eine vergleichbare Berechnungsgrundlage besteht - sachgerecht ist, auch hinsichtlich der Abzugsfrage betreffend den Ausländerstatus einzig die Löhne des privaten Sektors heranzuziehen, mithin die LSE-tabelle TA12.
Wie die Suva ermittelte und seitens des Beschwerdegegners unbestritten ist, resultierte aufgrund dieser Tabelle bei Männer mit Niederlassungsbewilligung C ohne Kaderfunktion ein Minderverdienst von 2.2 %. Dies stellt (allein für sich) keine überproportionale Lohneinbusse dar, muss aber im Rahmen der gesamthaften Schätzung mitberücksichtigt werden (SVR 2023 IV Nr. 18 S. 63 E. 5.2.2.1). Demnach ist auch bei einem Minderverdienst von 2.2 % bei gesamthafter Schätzung ein leidensbedingter Abzug von 10 % vertretbar.
6.2.3. Nach dem Gesagten reichen die Einwände der Suva nicht aus, um einen Ermessensmissbrauch oder eine Ermessensüberschreitung bzw. -unterschreitung seitens der Vorinstanz anzunehmen, wenn sie den Gesamtabzug vom Tabellenlohn entgegen der Suva nicht auf bloss 5 %, sondern auf 10 % festlegte. Damit hat es beim vorinstanzlichen Entscheid sein Bewenden
6.2.4. Da der Beschwerdegegner selber keine Beschwerde erhoben hat, braucht bei diesem Ergebnis nicht geprüft zu werden, ob neben dem von ihm anerkannten 10%igen Abzug die weiteren von ihm geltend gemachten Abzugsgründe vorliegen (vgl. BGE 125 V 413; Urteil 8C_829/2023 vom 12. Juli 2024 E. 4.1).
7.
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 28. Oktober 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Der Gerichtsschreiber: Jancar