7B_238/2025 20.03.2025
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_238/2025
Urteil vom 20. März 2025
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter, Hofmann,
Gerichtsschreiberin Sauthier.
Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Rupp,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Antrag auf Fortsetzung der Sicherheitshaft,
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer,
vom 13. März 2025 (SF250003-O/U/cs).
Sachverhalt:
A.
A.a. Das Bezirksgericht Dietikon sprach A.________ mit Urteil vom 12. März 2025 der mehrfachen sexuellen Nötigung, der mehrfachen Gefährdung des Lebens, der Gehilfenschaft zum Betrug, der mehrfachen einfachen Körperverletzung, der mehrfachen Drohung, der Drohung, der mehrfachen Sachbeschädigung, der Entwendung eines Fahrzeuges zum Gebrauch, des Fahrens in fahrunfähigem Zustand, des Fahrens ohne Berechtigung, der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, des mehrfachen Vergehens gegen das Waffengesetz, der mehrfachen Nötigung, der Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch Aufnahmegeräte, der mehrfachen Beschimpfung, der Tätlichkeiten sowie der mehrfachen Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes schuldig und bestrafte ihn mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 12 Jahren und 5 Monaten sowie einer unbedingten Geldstrafe von 160 Tagessätzen zu Fr. 30.-- als Zusatzstrafe zu früheren Strafbefehlen und mit einer Busse von Fr. 720.--.
A.b. Mit gleichentags ergangenem Beschluss entliess das Bezirksgericht A.________ aus der Sicherheitshaft. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich stellte am 12. März 2025 beim Bezirksgericht zu Handen der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts des Kantons Zürich den Antrag auf Fortsetzung der Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil.
B.
Mit Präsidialverfügung vom 13. März 2025 ist das Obergericht auf den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Fortsetzung der Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil nicht eingetreten.
C.
C.a. Mit Eingabe vom 14. März 2025 führt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich Beschwerde in Strafsachen gegen die Präsidialverfügung vom 13. März 2025 betreffend Antrag auf Fortsetzung der Sicherheitshaft gegen A.________. Sie beantragt in verfahrensrechtlicher Hinsicht, A.________ sei im Sinne einer vorsorglichen Massnahme für die Dauer des Beschwerdeverfahrens wieder in Sicherheitshaft zu versetzen.
C.b. Mit Präsidialverfügung vom 14. März 2025 wies das Bundesgericht das Gesuch auf Erlass einer vorsorglichen Massnahme ab. Zur Begründung führte es aus, A.________ werde aufgrund des Vollzugs einer Ersatzfreiheitsstrafe nicht in Freiheit entlassen, weshalb ein Titel für die Fortdauer des Freiheitsentzugs und kein Raum für die beantragte vorsorgliche Massnahme bestehe.
C.c. Mit Beschwerdeergänzung vom 17. März 2025 beantragt die Oberstaatsanwaltschaft erneut, A.________ sei im Sinne einer vorsorglichen Massnahme zur einstweiligen Sicherstellung bedrohter Interessen für die Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens in Sicherheitshaft zu versetzen. Zur Begründung verweist die Oberstaatsanwaltschaft auf den Umstand, dass A.________ den geschuldeten Betrag für die noch offene Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen bezahlt habe und folglich der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe obsolet geworden sei.
Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde richtet sich gegen einen Nichteintretensentscheid einer letzten kantonalen Instanz (vgl. Art. 80 BGG), der im Rahmen eines Strafverfahrens ergangen ist. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen grundsätzlich offen (vgl. Art. 78 Abs. 1 BGG). Zur Beschwerde ist gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Der Oberstaatsanwaltschaft steht die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG grundsätzlich ohne Einschränkungen zu, soweit sich ihr geschütztes Interesse aus dem staatlichen Strafanspruch ableitet, den sie zu vertreten hat (BGE 148 IV 275 E. 1.3; 145 IV 65 E. 1.2; 139 IV 199 E. 2; 134 IV 36 E. 1.4; je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 142 IV 196 E. 1 zur Frage der Zuständigkeit innerhalb der kantonalen Staatsanwaltschaften).
1.2. Vorliegend bezieht sich die Beschwerde auf die Frage, ob überhaupt ein kantonales Rechtsmittel offensteht, insofern verfügt die Oberstaatsanwaltschaft über ein rechtlich geschütztes Interesse, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.
2.
Zu prüfen ist vorliegend einzig, ob die Vorinstanz auf die kantonale Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft hätte eintreten müssen.
2.1. Die Vorinstanz begründet ihr Nichteintreten damit, dass kein Anwendungsfall von Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO vorliege. Das Bezirksgericht habe den Anträgen der Staatsanwaltschaft auf einen Schuldspruch entsprochen und eine unbedingte Freiheitsstrafe von 12 Jahren und 5 Monaten ausgesprochen. Die Freiheitsstrafe übersteige damit sogar das von der Staatsanwaltschaft beantragte Mass von 10 Jahren und 8 Monaten. Die Staatsanwaltschaft habe folglich auch keine Berufung angemeldet.
2.2. Die Oberstaatsanwaltschaft vertritt demgegenüber die Auffassung, dass, wenn sie gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO bei einem Freispruch inklusive Freilassung der beschuldigten Person zur Beschwerde legitimiert sei und die Fortsetzung der Sicherheitshaft beantragen könne, müsse ihr diese Legitimation erst recht zustehen, wenn bei einem vollumfänglichen Schuldspruch die Freilassung der beschuldigten Person verfügt werde. Andernfalls bestünde für den Fall der Verurteilung und Haftentlassung durch die erste Instanz eine Lücke zwischen Erlass des erstinstanzlichen Urteils und Berufungsanmeldung durch die beschuldigte Person. Innerhalb dieses Zeitraums könnte die beschuldige Person ansonsten entlassen werden, ohne dass dies verhindert werden könne, auch wenn die in Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO umschriebene Gefährdung gegeben sei. Nicht entscheidend sei, dass die Staatsanwaltschaft keine Berufung angemeldet habe und es für sie auch keinen Grund gebe, den erstinstanzlichen Entscheid im vorliegenden Verfahren anzufechten.
3.
3.1. Gemäss Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO kann die Staatsanwaltschaft, wenn die inhaftierte beschuldigte Person freigesprochen wird und das erstinstanzliche Gericht deren Freilassung verfügt, beim erstinstanzlichen Gericht zu Handen der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Fortsetzung der Sicherheitshaft beantragen, wenn die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, dass sie durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer unmittelbar erheblich gefährdet. In diesem Fall bleibt die betreffende Person bis zum Entscheid der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts in Haft. Diese entscheidet über den Antrag der Staatsanwaltschaft innert 5 Tagen seit Antragstellung.
Das Bundesgericht erwog in seiner Rechtsprechung, auch wenn der Gesetzgeber nur den offensichtlichen Fall des Freispruchs vorgesehen habe, finde Art. 231 Abs. 2 StPO ebenfalls in den anderen Fällen Anwendung, in denen den Anträgen der Staatsanwaltschaft nicht oder nicht vollständig stattgegeben werde und die beschuldigte Person freigelassen werde. Das Schweigen des Gesetzes sei auf eine Unachtsamkeit des Gesetzgebers zurückzuführen. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt die Regelung mithin sowohl bei einem Freispruch als auch bei einem Schuldspruch und zielt auf eine wirksame Wahrnehmung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft ab; sie ermöglicht der Staatsanwaltschaft, die Freilassung einer beschuldigten Person im Hinblick auf die Einleitung eines Berufungsverfahrens einstweilen zu verhindern (BGE 139 IV 314 E. 2.2.2; Urteile 1B_600/2011 vom 7. November 2011 E. 2.1, 1B_525/2011 vom 13. Oktober 2011 E. 2.2).
3.2. In der Literatur wird ebenfalls die Auffassung vertreten, dass auch bei einem Schuldspruch ein Verfahren analog zu Art. 231 Abs. 2 StPO möglich sei (vgl. Marc Forster, in: Basler Kommentar StPO, 3. Aufl. 2023, FN 38 zu Art. 231 StPO mit Hinweisen). Schmid/Jositsch halten mit Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung fest, dass Art. 231 Abs. 2 StPO den Entlassungsfall einschliesse, in dem zwar ein Schuldspruch erfolge, die ausgesprochene Strafe jedoch nicht den Anträgen des Staatsanwalts entspreche, dieser Berufung einlegen wolle und er die Haftgründe nach wie vor für gegeben halte (Niklaus Schmid/Daniel Jositsch, in: Praxiskommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 4. Aufl. 2023, N. 9 zu Art. 231). In diesem Sinne halten auch Frei/Zuberbühler Elsässer fest, das Bedürfnis, die beschuldigte Person bis zum Abschluss der Berufungsverhandlung in Sicherheitshaft zu behalten, könne genau so gross sein, wenn nach Auffassung der Staatsanwaltschaft eine viel zu milde Strafe ausgesprochen oder von einer freiheitsentziehenden Massnahme abgesehen worden sei (Mirjam Frei/Simone Zuberbühler Elsässer, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N. 12). Vorausgesetzt wird aber, dass bei einem Schuldspruch die Verurteilung erheblich von den Anträgen der Staatsanwaltschaft abweicht und diese die Fortsetzung der Sicherheitshaft für notwendig hält, um das von ihr angekündigte Berufungsverfahren vorzubereiten (vgl. Logos Daniel, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 13 zu Art. 231 StPO; Laurent Moreillon/Aude Parein-Reymond, in: Code de procédure pénale, 2 Aufl. 2016, N. 16 zu Art. 231 StPO; Mirjam Frei/Simone Zuberbühler Elsässer, a.a.O., N. 13 f., Niklaus Schmid/Daniel Jositsch, a.a.O., N. 9)
3.3. Im vorliegenden Fall wurde der Angeklagte schuldig gesprochen. Gemäss der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die Fortsetzung der Sicherheitshaft jedoch auch bei einem Schuldspruch beantragt werden, wenn die Freilassung einer beschuldigten Person im Hinblick auf die Einleitung eines Berufungsverfahrens einstweilen verhindert werden soll (vgl. E. 3.1 hiervor). Voraussetzung hierfür ist, dass die Staatsanwaltschaft durch konkrete Gründe dazu veranlasst ist, Berufung anzumelden. Ein Grund kann beispielsweise darin liegen, dass bei der Verurteilung erheblich von den Anträgen der Staatsanwaltschaft abgewichen wurde (vgl. die Urteile 1B_525/2011 vom 13. Oktober 2011 und 1B_600/2011 vom 7. November 2011). Derartige Umstände sind vorliegend nicht ersichtlich und werden selbst von der Oberstaatsanwaltschaft explizit verneint. Das Bezirksgericht entsprach den Anträgen der Staatsanwaltschaft bzw. erhöhte das beantragte Strafmass bei der Verurteilung sogar noch um fast zwei Jahre. Wie die Oberstaatsanwaltschaft ausführt, besteht aufgrund des vollumfänglichen Schuldspruchs für die Staatsanwaltschaft kein Grund, das erstinstanzliche Urteil mittels Berufung anzufechten.
Die Staatsanwaltschaft hat keinen Anlass bzw. kein rechtlich geschütztes Interesse daran, die Fortsetzung von Sicherheitshaft zu beantragen, wenn ihren Anträgen vollständig stattgegeben wurde. Anlass dazu bestünde nur im Hinblick auf ein Rechtsmittelverfahren, in welchem die Staatsanwaltschaft eine höhere Strafe beantragen würde. Dies ist hier unbestrittenermassen nicht der Fall. Daran ändert die Behauptung der Oberstaatsanwaltschaft nichts, wonach sie unter diesen Umständen nie die Möglichkeit hätte, die Fortdauer der Sicherheitshaft zu erwirken, wenn zwar ihren Anträgen hinsichtlich des Strafmasses entsprochen wurde, die beschuldigte Person aber (zu Unrecht) aus der Haft entlassen werde. Diese Annahme ist korrekt und steht im Einklang mit der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung hinsichtlich des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft gegen Haftentlassungsentscheide. Auch in Bezug auf Art. 222 StPO hat die Staatsanwaltschaft - entgegen der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung - kein Beschwerderecht gegen Haftentlassungsentscheide mehr (vgl. BGE 149 IV 135). Entgegen der Auffassung der Oberstaatsanwaltschaft lässt sich nichts anderes aus dem öffentlichen Interesse an einer funktionierenden Strafjustiz ableiten.
Wenn die erste Instanz zum Schluss kommt, die Voraussetzungen der Sicherheitshaft seien - trotz vollumfänglichem Schuldspruch der beschuldigten Person - nicht mehr erfüllt, kann die Staatsanwaltschaft, deren Anträge hinsichtlich des Strafmasses vollständig stattgegeben wurden, keine Fortsetzung der Sicherheitshaft beantragen.
Insoweit liegt denn auch gerade kein Anwendungsfall von Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO vor. Im Rahmen eines Freispruchs erfolgt seitens des erstinstanzlichen Gerichts keine Auseinandersetzung mit der Thematik der Fortführung der Sicherheitshaft. Der Staatsanwaltschaft steht es in diesem Fall daher offen, zuhanden des Berufungsgerichts einen Antrag auf Fortsetzung der Sicherheitshaft zu stellen. Bei der vorliegenden Verurteilung des Angeklagten hat sich das Bezirksgericht demgegenüber ausdrücklich mit der Frage der Fortführung der Sicherheitshaft auseinandergesetzt, von einer solchen abgesehen und die Haftentlassung verfügt. Gegen einen derartigen Entscheid steht der Staatsanwaltschaft seit der jüngsten Revision der StPO und der damit einhergehenden Rechtsprechung kein Beschwerderecht offen (BGE 149 IV 135). Entgegen dem Dafürhalten der Staatsanwaltschaft liegt insoweit keine Gesetzeslücke vor, da es dem Bezirksgericht von Gesetzes wegen offengestanden wäre, die Sicherheitshaft im Hinblick auf das Berufungsverfahren zu verlängern (Art. 231 Abs. 1 StPO).
Die Auffassung der Vorinstanz, es liege kein Fall von Art. 231 Abs. 2 lit. b StPO vor und ihre damit implizierte Folgerung, die Staatsanwaltschaft verfüge über kein rechtlich geschütztes Interesse, die Fortsetzung der Sicherheitshaft zu beantragen, ist unter diesen Umständen nicht zu beanstanden.
4.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen. Damit erübrigt sich ein (erneuter) Entscheid über das Gesuch auf Erlass vorsorglicher Massnahmen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner, dem im bundesgerichtlichen Verfahren mangels Einholens von Vernehmlassungen keine Kosten entstanden sind, hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, dem Bezirksgericht Dietikon und dem Justizvollzug und Wiedereingliederung schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. März 2025
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Die Gerichtsschreiberin: Sauthier