8C_570/2023 10.07.2024
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_570/2023
Urteil vom 10. Juli 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiberin Durizzo.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jörg Roth,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; Teilerwerbstätigkeit),
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 18. Juli 2023 (200 23 6 IV).
Sachverhalt:
A.
A.________, geboren 1991, bezog nach Absolvierung einer INSOS-Ausbildung zur Hauswirtschaftspraktikerin ab 1. August 2010 zunächst eine Viertelsrente (Verfügung vom 19. Juli 2011) und ab 1. März 2016 eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung (Verfügung vom 22. April 2016). Der von der IV-Stelle Bern beauftragte Neuropsychologe lic. phil. B.________ diagnostizierte in seinem Gutachten vom 15. März 2011 eine kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung (ICD-10 F83 mit/bei Entwicklungsstörung der Sprache, Rechenstörung, Einschränkungen beim anspruchsvolleren Problemlösen sowie weiteren kognitiven Einschränkungen in anderen Bereichen in geringerem Ausmass) und ging von einer Leistungsfähigkeit von 60 % im Rahmen eines 100 %-Pensums aus.
Nachdem A.________ der IV-Stelle die Geburt ihres Sohnes im April 2022 gemeldet hatte, leitete diese eine Revision von Amtes wegen ein und klärte die gesundheitliche und die Situation im Haushalt ab. Unter der Annahme, dass die Beschwerdeführerin nunmehr nur noch zu 60 % (statt wie bisher zu 100 %) erwerbstätig und im Übrigen im Haushalt beschäftigt wäre, hob sie den Rentenanspruch mit Verfügung vom 17. November 2022 auf (Invaliditätsgrad: 33 %).
B.
Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 18. Juli 2023 ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zu neuer Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Nach Beizug der vorinstanzlichen Akten verzichtet das Bundesgericht auf einen Schriftenwechsel.
Erwägungen:
1.
Da die Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich ein reformatorisches Rechtsmittel ist (Art. 107 Abs. 2 BGG), muss sie einen Antrag in der Sache (vgl. Art. 42 Abs. 1 BGG) enthalten; ein blosser Antrag auf Rückweisung genügt nicht, ausser wenn das Bundesgericht ohnehin nicht reformatorisch entscheiden könnte (BGE 136 V 131 E. 1.2 S. 135 f. mit Hinweis; Urteil 8C_673/2016 vom 10. Januar 2017 E. 1). Aus der Beschwerdebegründung, die in diesem Zusammenhang zur Interpretation beigezogen werden kann, ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin der Sache nach die Zusprechung der bis anhin gewährten Dreiviertelsrente anbegehrt und in Bezug auf die Bemessung der Vergleichseinkommen weiteren Abklärungsbedarf ortet. Es ist daher auf die Beschwerde einzutreten.
2.
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).
3.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die rentenaufhebende Verfügung vom 17. November 2022 bestätigte. Zur Frage stehen die Zulässigkeit der Rentenrevision nach Veränderung der erwerblichen Verhältnisse aus familiären Gründen sowie gegebenenfalls in welchem Umfang die Beschwerdeführerin als Gesunde nach der Geburt ihres Sohnes noch im Beruf tätig wäre und inwiefern sich dies in erwerblicher Hinsicht auswirkt. Unbestritten ist, dass in gesundheitlicher Hinsicht keine Veränderung eingetreten ist.
4.
Das kantonale Gericht hat mit Blick auf den hier zu beurteilenden, von der Beschwerdegegnerin per 31. Dezember 2022 aufgehobenen Rentenanspruch zu Recht die am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Bestimmungen des IVG und der IVV gemäss Änderung vom 19. Juni 2020 [Weiterentwicklung der IV WEIV], AS 2021 705 und 706; BBl 2017 2535) angewendet (Urteil 8C_435/2023 vom 27. Mai 2024, zur Publikation vorgesehen, E. 4.1 und 4.2). Die massgeblichen Rechtsgrundlagen über die Rentenrevision (Art. 17 ATSG; BGE 144 I 28 E. 2.2; 141 V 9 E. 2.3; 134 V 131 E. 3; 130 V 343 E. 3.5), insbesondere die Regel, dass der Rentenanspruch bei gegebenem Revisionsgrund für den Zeitpunkt der Revisionsverfügung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend ("allseitig") neu zu prüfen ist (BGE 141 V 9 E. 2.3), sowie zur Invaliditätsbemessung bei Teilzeiterwerbstätigen (Art. 28a Abs. 3 IVG; Art. 27bis IVV) werden im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt. Richtig festgestellt wird insbesondere, dass ein familiär bedingter Statuswechsel hin zu einer teilzeitlichen Erwerbstätigkeit praxisgemäss als Revisionsgrund gilt. Mit dem neuen Berechnungsmodell des Art. 27bis IVV, eingeführt im Nachgang zum Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Sachen Di Trizio gegen die Schweiz (7186/09) vom 2. Februar 2016 mit der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Verordnungsänderung, wurde die gemischte Methode nichtdiskriminierend ausgestaltet zur EMRK-konformen Behandlung teilerwerbstätiger Versicherter (BGE 147 V 124 E. 5.2).
Anzufügen ist, dass die Beantwortung der Statusfrage, das heisst, ob eine versicherte Person als ganztägig oder zeitweilig erwerbstätig oder als nichterwerbstätig einzustufen ist, zwangsläufig eine hypothetische Beurteilung erfordert, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person zu berücksichtigen hat. Derlei ist einer direkten Beweisführung wesensgemäss nicht zugänglich und muss in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden. Die Beurteilung hypothetischer Geschehensabläufe stellt eine Tatfrage dar, soweit sie auf Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung mitberücksichtigt werden (BGE 144 I 28 E. 2.4). Zutreffend wiedergegeben werden im angefochtenen Urteil die Bestimmungen über den Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) im Fall von versicherten Personen, die aufgrund ihrer Invalidität keine berufliche Ausbildung beginnen oder abschliessen konnten (Art. 26 Abs. 6 und Art. 26bis Abs. 2 IVV). Zu ergänzen ist diesbezüglich, dass bei der Berechnung des Invaliditätsgrades gemäss Art. 27bis Abs. 3 IVV in der am 1. Januar 2018 getretenen Fassung nicht nur das Validen-, sondern auch das Invalideneinkommen auf der Grundlage einer hypothetischen Vollzeittätigkeit zu ermitteln ist (BGE 145 V 370), was in der seit 1. Januar 2022 geltenden Fassung von Art. 27bis IVV nunmehr in Abs. 2 ausdrücklich festgehalten ist (vgl. dazu auch erwähntes Urteil 8C_435/2023 vom 27. Mai 2024 E. 4.1, 4.3.1 und 4.3.2.1).
5.
5.1. Die Vorinstanz stellte fest, dass die Beschwerdeführerin ihr Arbeitspensum nach der Geburt ihres Sohnes auf 20 % reduziert habe. Das kantonale Gericht ging, entsprechend den Angaben der Beschwerdeführerin anlässlich der Abklärung im Haushalt, davon aus, dass sie bei guter Gesundheit ein 60 %-Pensum ausüben würde. Aufgrund des Statuswechsels seien, so die Vorinstanz, die Voraussetzungen für eine Rentenrevision erfüllt. Sie setzte den hypothetischen Verdienst als Gesunde (Valideneinkommen) nach Massgabe von Art. 26 Abs. 6 IVV auf Fr. 80'193.- und den zumutbarerweise noch erzielbaren Lohn für ein 60 %-Pensum gestützt auf Art. 26bis IVV auf Fr. 36'679.- fest. Aus dem Vergleich der beiden Einkommen ergab sich ein Invaliditätsgrad von 54,26 % beziehungsweise gewichtet für den erwerblichen Bereich 32,55 %. Bezüglich der Einschränkung im Haushalt stellte das kantonale Gericht auf den Abklärungsbericht vom 14. Oktober 2022 ab und ging von einem Invaliditätsgrad von 8 %, gewichtet für diesen Bereich 3,2 %, aus. Insgesamt resultierte ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 36 %.
5.2. Die Beschwerdeführerin macht sinngemäss im Wesentlichen geltend, die Aufhebung des Rentenanspruchs nach der Geburt ihres Sohnes stelle eine unzulässige Benachteiligung dar. Sie erneuert des Weiteren ihren Einwand, man habe ihr bei der Haushaltsabklärung die Angabe, das Pensum wegen der Betreuungspflichten reduziert zu haben, abgerungen. Da sie seit jeher eingeschränkt sei, lasse sich die Frage, was sie als Gesunde täte, gar nicht beantworten. Die Beschwerdeführerin rügt schliesslich, dass beim Invalideneinkommen nicht auf die statistischen Werte, sondern wie bisher auf die konkreten Lohnempfehlungen der OdA Hauswirtschaft Schweiz abzustellen sei. Beim Valideneinkommen seien die geschlechtsunabhängigen statistischen Werte herangezogen worden, was nicht nachvollziehbar sei. Zudem sei beim Verdienst als Gesunde lohnerhöhend zu berücksichtigen, dass sie auch an den Wochenenden arbeiten würde.
6.
6.1. Was zunächst den Status betrifft, lässt sich nicht ersehen, inwiefern die Vorinstanz offensichtlich unrichtige Feststellungen in sachverhaltlicher Hinsicht getroffen haben sollte, indem sie annahm, die Beschwerdeführerin hätte ihr Arbeitspensum nach der Geburt ihres Sohnes auch als Gesunde auf 60 % reduziert. Mit ihrem Einwand, es hätte auf ihre eigenen Angaben zuhanden der Abklärungsperson nicht abgestellt werden dürfen, vermag die Beschwerdeführerin nicht durchzudringen. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sie bei der Abklärung im Haushalt in diesem Punkt zu ihren Ungunsten beeinflusst worden wäre. Im Übrigen verwarf das Bundesgericht in BGE 147 V 124 (E. 5) den Einwand, dass Mütter, die nach der Familiengründung ihr Erwerbspensum reduzieren, auch unter dem am 1. Januar 2018 eingeführten Berechnungsmodell der gemischten Methode diskriminiert würden. Inwiefern Anlass zu einer diesbezüglichen Rechtsprechungsänderung bestünde, zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf und ist nicht zu erkennen. Das kantonale Gericht ging sodann zu Recht davon aus, dass wegen des Statuswechsels eine Rentenrevision zu erfolgen habe.
6.2. Nicht bestritten wird das angefochtene Urteil hinsichtlich der Einschränkungen im Haushalt. Die vorinstanzlichen Feststellungen in erwerblicher Hinsicht lassen sich nicht beanstanden. Dies gilt zunächst insoweit, als das kantonale Gericht sowohl beim Validen- wie auch beim Invalideneinkommen - bei medizinischer Zumutbarkeit, einen ganzen Arbeitstag anwesend zu sein - jeweils von einer hypothetischen Vollzeittätigkeit ausging (BGE 145 V 370 E. 4.2). Von der Beschwerdeführerin gerügt wird des Weiteren, dass ihr bei der Rentenrevision auf der Seite des Invalideneinkommens ein (höherer) statistischer Verdienst angerechnet statt wie früher auf die für den von ihr erlernten Beruf empfohlenen Löhne abgestellt worden sei. Mit Blick auf die bei gegebenem Revisionsgrund vorzunehmende Neubeurteilung auch in rechtlicher Hinsicht hatte das kantonale Gericht indessen mit der Verwaltung die mit der WEIV eingeführte Neuregelung über die Bestimmung des Einkommens mit Invalidität in Art. 26bis Abs. 2 IVV anzuwenden und gestützt darauf die statistischen Werte heranzuziehen (vgl. dazu auch den Erläuternden Bericht des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV vom 3. November 2021 [nach Vernehmlassung] betreffend Ausführungsbestimmungen zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [Weiterentwicklung der IV], S. 52 f.). Dass diese Verordnungsbestimmung gesetzeswidrig wäre, wird beschwerdeweise nicht geltend gemacht. Des Weiteren wird nicht bestritten, dass auf das tatsächlich erzielte Einkommen für das 20 %-Pensum nicht abgestellt und dieses zudem auch nicht auf den entsprechenden Lohn für ein 60 %-Pensum hochgerechnet werden kann, steht doch ein solches bei der aktuellen Arbeitgeberin nach den Angaben der Beschwerdeführerin gar nicht zur Verfügung.
Soweit schliesslich die Ermittlung des Valideneinkommens anhand geschlechtsunabhängiger statistischer Werte bemängelt wird, entspricht dies den Vorgaben des Art. 26 Abs. 6 IVV (vgl. dazu den erwähnten Erläuternden Bericht S. 51 f.). Inwiefern der Beschwerdeführerin dadurch ein Nachteil entstünde, ist nicht erkennbar. Ein allfälliger höherer Lohn wegen Wochenendzulagen wäre indessen entgegen dem Einwand der Beschwerdeführerin nicht nur zu ihren Gunsten allein auf der Seite des Valideneinkommens zu berücksichtigen. Ihre Angaben zu den Betreuungsmöglichkeiten für ihren Sohn durch Familienangehörige anlässlich der Abklärung im Haushalt bezogen sich ausdrücklich (auch) auf die aktuelle Situation, also unter Berücksichtigung der Invalidität.
6.3. Die Beschwerde erweist sich damit insgesamt als unbegründet.
7.
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 10. Juli 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo